Zuwendung oder Abwendung?: Ein ZDF-Fernsehfilm über eine Familie im Ausnahmezustand

„Jeder Mensch ist ein Abgrund. Es schwindelt einem, wenn man hinabsieht“, lässt Georg Büchner seinen „Woyzeck“ sagen. Tom Wesnik hat auch in einen solchen Abgrund geschaut – in den seines Sohnes Lukas. Der 16-Jährige hat drei Menschen, darunter seinen besten Freund Dennis, erschossen, so kaltblütig, dass es heißt, er habe sie hingerichtet. Draußen, in der Umgebung Berlins, in einem Dorf im brandenburgischen Nirgendwo, wo das Ehepaar hingezogen ist, damit Tochter und Sohn jenseits hauptstädtischer Gefahren aufwachsen können. Aber die Gefahr lauerte nicht draußen, sondern unsichtbar drinnen.

Tom Wesnik und seine Frau Esther reagieren auf die schockierende Tat sehr unterschiedlich. Esther als liebende Mutter: Nein, das war nicht Lukas, der schoss, das war sein Freund Dennis, als es doch Lukas ist, organisiert sie eine Anwältin. Sie will für ihren Sohn retten, was zu retten ist. Esther reagiert mit Zuwendung, Tom mit Abwendung. Sein Sohn ist ein Mörder, der nichts bekennt, der nicht erklärt, in Wesniks Augen kommt da ein Monster herauf. Der Vater stellt jeden an den Marterpfahl, sich selbst an den größten, er will die Antwort auf die Warum-Frage. Und er muss erkennen, dass er, der weltreisende Fotojournalist, unendlich fern von seinem Sohn war, der ihn zutiefst bewunderte. Lukas war ihm ein Fremder geworden, und je tiefer er in dessen Vergangenheit dringt, desto wahrer wird Esthers Satz: „Schön, dass Du endlich in unserem Leben angekommen bist.“ Implodiert die Familie? „Vater Mutter Mörder“ oder doch „Vater Mutter Kinder“? Tom Wesnik nimmt einen langen Umweg ins Innere seiner Familie.

Das ist für einen Fernsehfilm mit Tod und Verbrechen eine Überraschung, ein ganz besonderer Magnetismus. Der Film geht nicht von A nach B, um bei C die Auflösung zu finden. Niki Stein, sorgfältig als Autor und behutsam als Regisseur, schreibt der Tat keine zwingende Logik ein, das Böse bleibt bei ihm das nicht immer Erklärbare. Die Fassungslosigkeit der Eltern wird zur Fassungslosigkeit der Zuschauer.

Den Schauspielern gelingt, was Drehbuch und Inszenierung gelingt – Menschendarstellung

Trotzdem sich Fluchtmöglichkeiten anzubieten scheinen: Lukas hat Killerspiele gespielt, er zeichnete Hinrichtungen und weitere Gewalttaten. Aber Unzurechnungsfähigkeit im Tatmoment ist nicht drin, sagt der Psychologe. Vielleicht mordete Lukas aus schmerzlicher Leere, weil es ihm am Vergnügen zu leben fehlte. Tom Wesnik erfährt, dass der Sohn eine Therapie hatte, sie wurde ihm von seiner Frau verheimlicht, weil Lukas es so wollte. Geschah die Tat aus Eifersucht, weil Lukas und Dennis um Nadja buhlten, die Tochter, deren Eltern Lukas erschoss? Alles, was nach Plausibilität aussieht, wird kleiner und kleiner, löst sich auf. Lukas ist verantwortlich für seine Tat, die Eltern verantwortlich für ihren Sohn. Das ist Familie, im Guten wie im Bösen. Das will begriffen sein.

Der Täter wird an den Rand geschoben, Mutter und Vater rücken in den Fokus, das ist die Perspektive. Darin ist der Film stark, autonom wird er, weil er nicht nach gesellschaftlicher Relevanz, nach Sozialstatistik lugt. Er bleibt, sozusagen, in der Familie Wesnik (und dort bleibt er natürlich nicht). Silke Bodenbender in der Mutterrolle nimmt sich vielleicht ein wenig zu viel Anleihe bei Polly Patent, während Heino Ferch als Tom Wesnik sich seine Wutfurchen zwischen den Augenbrauen Minute um Minute mehr verdient. Vor der vermittelten Intensität sind das Überspanntheiten. Bodenbender und Ferch führen das überzeugende Ensemble an, das über seine fehlbaren, in sich verbissenen und erst allmählich aufbrechenden Figuren nicht hinausblicken will. Sie sind nicht größer als der Film groß ist. Den Schauspielern gelingt, was Drehbuch und Inszenierung gelingt – Menschendarstellung. „Vater Mutter Mörder“, 20 Uhr 15, ZDF