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Migration bedeutet Normalität.

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20 Jahre nach dem Anschlag von Solingen: Wandel in der bunten Republik Deutschland

20 Jahre nach dem Brandanschlag in Solingen existieren in Deutschland immer noch Ressentiments und Rassismus. Doch die Mehrheit der Gesellschaft hat sich gewandelt. In Zeiten von Globalisierung bedeutet Migration: Normalität.

Am morgigen Mittwoch vor 20 Jahren starben zwei türkischstämmige Frauen und drei Mädchen im nordrhein-westfälischen Solingen als Opfer eines rechtsradikalen Brandanschlags. Drei Tage zuvor, am 26. Mai 1993, war das deutsche Asylrecht drastisch verschärft worden. Ein düsterer Triumph der Fremdenfeindlichkeit, so schien es damals, zumal nach den vorangegangenen Pogromen und Anschlägen in Hoyerswerda, Rostock und Mölln.

Gewiss kann man sagen, von jenen Untaten führt eine grausige Spur auch in die Gegenwart, gipfelnd in den NSU-Morden, deren meiste Opfer ebenfalls türkische Wurzeln hatten. Nicht zufällig erhalten am 20. Jahrestag des Solinger Verbrechens der Bundestagsabgeordnete Sebastian Edathy, Vorsitzender des NSU-Untersuchungsausschusses, und Ismail Yozgat, der Vater eines der NSU-Opfer, den zum zweiten Mal verliehenen „Genç-Preis für friedliches Miteinander“. Die Auszeichnung ist benannt nach der türkischen Familie, deren Wohnhaus in Solingen die neonazistischen Mordbrenner einst heimgesucht hatten. Überlebende der Familie, die zum Teil heute einen deutschen Pass haben, setzen sich entschieden für Versöhnung und Verständnis ein, für Aufklärung und Integration.

Seit 2006 gibt es ja auch den offiziellen „Integrationsgipfel“, der just heute im Berliner Kanzleramt tagt. Angela Merkel wirbt dabei für den Dialog der Kulturen und Religionen, für Sprach- und Bildungsförderung der Migranten – und für eine neue deutsche „Willkommenskultur“. Das geschieht freilich nicht aus reiner Menschenfreundlichkeit, sondern auch wegen fehlender Fachkräfte in der heimischen Wirtschaft und angesichts einer demografischen Entwicklung, die Deutschland inzwischen nach qualifizierten Einwanderern rufen lässt. Eigene Kinder statt Inder, diese dumm-populistische Alternative ist von vorgestern.

Mevlüde Genç äußerte sich am 02. Mai 2013 in Solingen zum Brandanschlag auf ihr Haus in 1993.
Mevlüde Genç äußerte sich am 02. Mai 2013 in Solingen zum Brandanschlag auf ihr Haus in 1993.

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Deutschland ist längst ein Einwanderungsland. Selbst wenn Politik und Medien noch das Unwort „Zuwanderer“ benützen, weil das weicher, vorläufiger, beiläufiger klingt. Tatsächlich hat sich kulturell, politisch und faktisch seit Solingen sehr viel verändert. Viel aber heißt nicht alles. In Deutschland wie in den meisten anderen europäischen Staaten existieren Ausländerfeindlichkeit, Ressentiments, Rassismus, Rechtsextremismus weiter fort. Alle Umfragen deuten darauf hin, dass etwa ein Viertel der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft Fremdem und Fremden abweisend gegenübersteht.

Buchstäblich: verbockt. Denn der (angeblich) Fremde dient traditionell auch als Sündenbock, um vor allem in wirtschaftlichen Krisenzeiten von eigenen Ursachen abzulenken. So wird Angela Merkel als prominenteste Ausländerin gerade symbolisch auf den Altären populistisch-politischer Debatten in den Mittelmeerländern geopfert. Wie einst der den Göttern zum Brandopfer dargebrachte Sündenbock. Wo das Opfer aber in der eigenen Nähe lebt und ungeschützt ist, wird das Symbolische leicht grausamer Ernst. Das erfahren als Verfolgte und Ausgestoßene heute beispielsweise Sinti und Roma in den südosteuropäischen Regionen.

Das ist ein anderer Ernst. Anders als ein paar ausländerfeindliche Unsäglichkeiten, die aus dem Bodensatz etwa der Thilo-Sarrazin-Debatte hochkochen. Da entsteht manch heißer und sogar brauner Dampf. Aber nicht jeder Schwätzer am virtuellen Stammtisch wird darum schon zum Schläger oder Mörder. Und nicht jede Art Demoskopie taugt gleich zum Alarmismus. Wer mit versimpelnden Fragen operiert wie „Sind Sie dafür, bei drei Millionen Arbeitslosen in Deutschland verstärkt ausländische Arbeitskräfte anzuwerben?“, den kann die Antwort kaum überraschen.

Die Realität ist widersprüchlicher als politisch korrekte Thesen. Jeder missachtete, oft jahrelang in menschenunwürdigen Sammellagern gehaltene Asylbewerber, jede bei der Wohnungs- oder Jobsuche wegen eines fremdländischen Namens begründungslos abgewiesene Mitbürgerin ist schon einer und eine zu viel. Von den Opfern manifester Gewalt in U-Bahnhöfen, an Bushaltestellen, auf öffentlichen Plätzen nicht zu schweigen. Nicht zu schweigen auch von den skandalösen No-go-Areas vor allem für farbige Ausländer in den neuen Bundesländern. Und doch hat sich die Mehrheit der Mehrheitsgesellschaft gewandelt.

Migration ist in friedlichen wie unfriedlichen Zeiten der Globalisierung die Normalität. Sie bedeutet Belastung, Herausforderung und Bereicherung. Kanzler Helmut Kohl ist vor 20 Jahren nicht nach Solingen gekommen. Heute wäre das schwer vorstellbar. Denn die Bunte Republik Deutschland gehört nicht nur bei den erfolgreichen Fußballteams zur neuen Realität.

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