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2010: Im neuen Jahrzehnt

Selten ist mehr geschehen als im gerade zu Ende gehenden Jahrzehnt. Weil alles immer schneller und gleichzeitiger passiert, erscheint auch die Gegenwart immer haltloser. Zukunftsprognosen werden oft schon am Tag danach widerlegt. Peter von Becker über das, was wir erlebten, und das, was uns erwartet.

Im fernöstlichen Teil der Welt ist 2010 das Jahr des Tigers. Das ruft wach, dass wir, nach dem amerikanischen 20. Jahrhundert, spätestens jetzt in einer Epoche leben, die von China und Asien geprägt wird. Wer aber und was ist da noch auf dem großen Sprung?

Am 31. Dezember 1999, zehn Jahre nach dem Mauerfall und dem Ende des Kommunismus, schien den meisten nur noch eine kalendarische Zäsur bevorzustehen. Ein Zeitenende, keine Zeitenwende. Es war, als ob zumindest im Westen das Heilsversprechen einer posthistorischen, global homogenen Gegenwart begonnen hätte. Kaum jemand hätte sich träumen lassen, dass in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts mit zwei Weltwirtschaftskrisen, den neuen Formen des selbstmörderischen Terrors und des religiösen Fundamentalismus, mit dramatischem Klimawandel und neuen Kriegen alle eben noch triumphierenden Heilsgewissheiten explodieren würden.

Selten ist mehr geschehen als im gerade zu Ende gehenden Jahrzehnt. Und weil durch die virtuelle Allzeitpräsenz des Internets, das nun zum noch totaleren Outernet mutiert, für alle alles immer schneller und gleichzeitiger passiert, erscheint auch die Gegenwart immer haltloser. Der Geistesgegenwärtige aber weiß, dass die Gegenwart nur eine ideelle Sekunde existiert, dann ist sie wieder vorbei. Auch die globale „Echtzeit“ wird sofort zur Vergangenheit. So lehrt gerade das Internet die antike Wahrheit des Heraklit: Alles ist im Fluss.

Zukunftsprognosen werden oft schon am Tag danach widerlegt. Und doch gibt es Halt, mindestens Anhaltspunkte. Eben erst hat der Vieldenker Peter Sloterdijk die heute an allem, an Religion und Wissenschaft Zweifelnden „Atheisten der Zukunft“ genannt. Und der Philosoph Odo Marquardt sagt: Zukunft braucht Herkunft. Erwartungen bilden sich nur aus Erfahrungen, die Hoffnung gründet auf Erinnerungen an Glück oder Unglück.

1900 erschien Sigmund Freuds „Traumdeutung“. Mit der Psychoanalyse schaute der Mensch erstmals bewusst ins Unbewusste, im selben Jahr erdachte Max Planck in Berlin die Quantenphysik; bald wurden mit Albert Einstein Raum und Zeit relativ, das Kino eroberte die Massen, Picasso erfand den Kubismus, es entstanden abstrakte Malerei und atonale Musik. Vom Boxeraufstand in China bis zum afrikanischen Burenkrieg und den Revolten in Indien oder im zaristischen Russland: Die Erschütterung der alten europäischen Monarchien und Kolonialimperien, die wissenschaftliche, kulturelle und politische Umwälzung eben noch gefestigter Welt- und Menschenbilder, das alles geschah bereits zwischen 1900 und 1909/10, noch vor den beiden großen Weltkriegen: Eine vielleicht erinnerungswerte Analogie, denken wir jetzt zurück an unser vergangenes Jahrzehnt.

Diese Erinnerung sollte weder Kriegsfurcht noch Katastrophenängste schüren. Das 20. Jahrhundert war auch das der Physik, bis hin zur Zündung der Atombombe. Aber aus Hiroshima hat die Welt bisher ihre Lehren gezogen. Und in diesem 21. Jahrhundert der Biologie, der erstmals menschenmöglich gewordenen biotechnologischen Umschöpfung des Menschen, wird man eine Balance zwischen Machbarkeit und Menschenwürde finden. Finden müssen. Ähnliches gilt für das Verhältnis von Freiheit und Ordnung, das nicht nur die Terrorabwehr betrifft, sondern auch die Klimapolitik, die globale Finanzwirtschaft oder Regeln fürs Internet. Fast alles ist heute auf dem Sprung, steht auf dem Spiel. Viel ist da zu befürchten – und umso mehr zu hoffen.

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