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Meinung: 250 Millionen Mal stärker als Zyanid

Alexander Litwinenko wurde ermordet – mit Polonium-210

Alexander S. Kekulé Die britischen Behörden haben sich jetzt festgelegt: Der ehemalige KGB-Agent Alexander Litwinenko wurde mit Polonium-210 getötet. Das metallisch glänzende Element ist wegen seiner besonders starken Radioaktivität wohl bekannt. Für einen Giftanschlag wurde es jedoch noch nie benutzt – oder genauer: Es wurde nie nachgewiesen. Die exotische Mordmethode, die nirgendwo in der Literatur beschrieben ist, erinnert frappierend an Spionagethriller à la John Le Carré. War es der russische Geheimdienst FSB, der den unbequemen Regimekritiker liquidierte? Oder beging Litwinenko Selbstmord und wollte den Verdacht auf den verhassten Staatschef Putin und dessen Handlanger lenken?

Gewöhnliche Kriminelle kommen als Täter jedenfalls kaum infrage. Die toxischen Eigenschaften von Polonium-210 sind wenig erforscht, weil das Element in der Natur nur in winzigen Mengen vorkommt – eine Tonne Uranerz enthält weniger als ein Zehntausendstelgramm davon. Allerdings ist bekannt, dass der frühere sowjetische Geheimdienst ein Faible für radioaktive Giftstoffe hatte. Kaum ein Gift ist schwerer zu beschaffen als Polonium-210. Zur Herstellung größerer Mengen wird das Halbmetall Wismut in einem Kernreaktor mit Neutronen beschossen. Dabei entsteht das radioaktive Gas Radon-222, das zu Polonium-210 zerfällt. Weil Polonium-210 eine Halbwertszeit von nur 138 Tagen hat, muss es kurz vor einem geplanten Anschlag aus einem Kernreaktor entwendet und gegebenenfalls über mehrere Staatsgrenzen geschmuggelt werden. Polonium-210 wird als Zünder für Plutoniumbomben (älterer Bauart) und zur Stromerzeugung in Satelliten verwendet. Aus russischen Militärforschungsanlagen wurde mehrmals Polonium-210 gestohlen. Es dürfte deshalb – entsprechende Verbindungen vorausgesetzt – auf dem nuklearen Schwarzmarkt zu bekommen sein. Doch warum verwendet jemand ausgerechnet Polonium-210 für einen Giftmord?

Dafür gibt es drei nahe liegende Gründe. Erstens ist das radioaktive Element äußerst stark giftig, 250 Millionen Mal stärker als Zyanid. Daher kann die tödliche Dosis, die kleiner als ein Staubkorn ist, nicht am Geschmack erkannt werden. Gerade bei einem ehemaligen KGB-Agenten wie Litwinenko ist anzunehmen, dass er die Geschmacksnoten gewöhnlicher Gifte wie Arsenik, Zyanid oder Strychnin bestens kennt. Zweitens sind fast alle Gifte schnell nachzuweisen, mehr oder minder wirksame Gegengifte stehen zur Verfügung. Bei Polonium-210 dauerte es dagegen Wochen, bis es ermittelt wurde. Die aus Tierversuchen bekannten, ohnehin wenig wirksamen Gegenmittel (sogenannte Chelatoren, welche die Ausscheidung von Polonium beschleunigen) kommen dann viel zu spät. Drittens stirbt der Delinquent langsam und qualvoll, was die abschreckende Wirkung des Anschlages erhöht.

Polonium-210 tötet nach Aufnahme in den Körper durch seine radioaktiven Alphastrahlen die umliegenden Zellen ab. Dabei ist das schnell regenerierende Gewebe in Verdauungstrakt und Knochenmark besonders betroffen, weshalb es zu Übelkeit und Blutbildungsstörungen kommt. Zusätzlich werden die Nieren, die Leber und die Milz geschädigt, weil sich Polonium-210 hier besonders stark anreichert. Die Strahlenschäden treten jedoch üblicherweise erst nach Tagen bis Wochen auf – außer, die Dosis war zigtausendfach höher als nötig. In diesem Fall kann Polonium zusätzlich, durch Blockierung von Enzymen, eine nichtradioaktive Vergiftung verursachen, die sofort zu Symptomen führt.

Da mehr als die Hälfte des zugeführten Polonium-210 innerhalb von ein bis zwei Tagen über Stuhl, Urin und andere Körperflüssigkeiten ausgeschieden wird, könnte Litwinenko tagelang eine Spur der radioaktiven Verseuchung hinterlassen haben. Die Aufnahme kleinster Mengen Polonium-210, durch Inhalation von Staub oder über Nahrungsmittel, erhöht das Krebsrisiko beträchtlich.

Dem Vernehmen nach wurden diese Woche in London mehrere öffentliche Orte, an denen sich Litwinenko vor seinem Tod aufhielt, gesperrt und von Radioaktivität gereinigt. Drei Personen werden auf mögliche Poloniumvergiftung untersucht. So ganz sicher scheinen sich die Behörden mit ihrer „Entwarnung“ also nicht zu sein.

Der Autor ist Institutsdirektor und Professor für Medizinische Mikrobiologie in Halle. Foto: J. Peyer

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