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George Orwells "1984" ist Wirklichkeit – wir müssen friedlich und kooperativ damit umgehen, und zwar mit, nicht gegen oder ohne Amerika.

© dpa

50 Jahre Münchner Sicherheitskonferenz: Vom Krieg der Datenkraken

Von der Bedrohung durch die Atombombe zum Cyberwar: Die Sicherheitspolitik hat sich in den vergangenen Jahrzehnten verändert. Eins bleibt aber, wie es immer war: Deutschlands wichtigster Partner sind die USA.

Steht die Welt auf dem Kopf? Ist der zuverlässigste Freund Deutschlands, ist Amerika zum Feind Nummer 1 mutiert, der Präsident im Weißen Haus zur Nummer 1 im Reich des Bösen? Im ersten Jahr seiner zweiten Amtszeit hält die Krake Datensammelwut den Präsidenten fest in ihren erstickenden Armen. Der mächtigste, frei gewählte Mann der Welt steht ohnmächtig vor dem Scherbenberg zerstörten Vertrauens, den im Verborgenen arbeitende Staatsdiener vor ihm aufgetürmt haben.  Verborgen hinter dem Schutzschild angeblicher Sorge um die nationale Sicherheit haben sie mit ihren Riesenstaubsaugern nicht nur unvorstellbare Informationsmengen eingesogen, sondern,  weitaus gravierender, das über Jahrzehnte gewachsene Vertrauen in die Vereinigten Staaten schwer beschädigt, wenn nicht zerbrochen. Unter dem Deckmantel des Schutzes vor Terroristen werden Freiheit und Selbstbestimmung der Bürger bedroht.

Deutschland hat sich immer auf die USA verlassen

Wir Deutsche haben uns in den Nachkriegsjahrzehnten immer auf die USA verlassen können. Das zuverlässige Wort des amerikanischen Präsidenten gehört zum Kernbestand bundesdeutscher Sicherheit. Niemand hat das deutlicher bekundet als die Bevölkerung von Berlin. Den Ausruf von John. F. Kennedy: „Ich bin ein Berliner“ quittierten sie mit frenetischem Beifall und grenzenloser Freude. Sie waren überzeugt, Amerika werde die belagerte Stadt notfalls schützen. Es war das Wort, nicht die Garnison, das Schutz verhieß, wo es, bei nüchterner Analyse, in einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen den Atommächten kaum Rettung hätte geben können. 

Sicherheit bedeutete Schutz vor militärischer Bedrohung

Sicherheit war damals vor allem Sicherheit gegen militärische Bedrohung. Wo einseitige Garantieerklärungen den verunsicherten Deutschen nicht reichten, lud Washington den westdeutschen Partner an den Vorstandstisch großer Sicherheitspolitik. Freilich hatten sie mit Helmut Schmidt einen kundigen und mit eigenen Konzepten ausgewiesenen Gesprächspartner. Nicht nur hatte er die heimtückische sowjetische Rüstung mit Mittelstreckenraketen entdeckt, sondern mit dem, was 1979 zum Nato-Doppelbeschluss geronn, auch das Konzept entwickelt: Nachrüstung ja, besser aber beiderseitige Abrüstung. Das Konzept hatte Erfolg: 1987 verschwanden alle Mittelstreckenraketen im Mülleimer der Geschichte. Nicht minder wichtig aber war, dass Präsident Carter, weiß Gott nicht Schmidts Freund, nicht auf die heute Washington beherrschende Idee verfallen war, zur ausschließlich amerikanischen Sache zu erklären, was tatsächlich die ganze Allianz, vor allem aber die Mehrheit der Deutschen traumatisierte.

Der Zugang zum Öl bestimmt die Sicherheitspolitik nur am Rande

Raketen, Soldaten, Flugzeuge und Schiffe im Lager der politischen Widersacher waren allerdings nicht die alleinigen Symbole der Bedrohung. Schon 1973 machten die sicherheitsbewussten Bürger in den westlichen Industrienationen eine gänzlich neue Erfahrung: Der gülden aus der Erde fließende Rohstoff Öl wurde als politische Waffe gegen sie und ihre Lebensgewohnheiten eingesetzt.  Arabische Förderländer nutzten ihre Macht als nicht zu kompensierende Versorgungsstaaten und drehten den Freunden Israels und Amerikas den Ölhahn zu, als diese 1973 – auf sehr unterschiedliche Weise – im ägyptisch-syrischen Angriffskrieg gegen Israel Partei für den Staat der jüdischen Bevölkerung ergriffen. Beherzte Regierungschefs zogen die Notbremse: Autofreie Wochenenden und Fahrradfahrer auf der Autobahn gerieten zu unvergesslichen Zeugen für die Verwundbarkeit des Rohstoffhabenichts Deutschland.

Gewiss: Schnell war diese Lehrstunde auch wieder vergessen. Als Bundespräsident Köhler im Mai 2010 die exportabhängige und Wohlstand gewohnte Bundesrepublik an die Schutzbedürftigkeit ihrer Versorgungswege erinnerte, erlosch seine Lust zum Amt in einem Feuerwerk von hämischen und böswilligen Kommentaren. Köhler ging – aber die Frage nach der Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit seiner Handelswege blieb unbeantwortet – bis heute. Auch die nicht wenigen Bundeswehr-Reformer gingen gedankenlos an ihr vorbei.

Der Cyberwar wird immer wichtiger

Die rasante Entwicklung von Wissenschaft und Technik tat das Ihrige, Bedrohungen und ihre Abwehr neu zu fassen. Lange vor Präsident Obama träumte Amtsvorgänger Ronald Reagan von der Schutzwirkung revolutionärer Technologien. Ein weltraumgestützter Schutzschirm aus Abwehrraketen sollte Amerika unverwundbar machen. Sein Inspirator und Sendbote, Edward Teller, Vater der Wasserstoffbombe, suchte auch das Forum der Münchner Wehrkundetagung zu begeistern; Erfolg war ihm letztlich nicht beschieden – aber der Blick in eine Zukunft geöffnet, in der Sicherheit immer stärker in die Abhängigkeit von automatisierter Hochtechnologie geraten sollte. 

Cyberwar und Kampfdrohnen sind die neuen Wunderwaffen, und  Hochleistungscomputer das Instrument,  unkontrolliertes Eindringen in Datenbanken konkurrierender Staaten und Firmen als Schutz vor Terrorismus zu tarnen. Im 21. Jahrhundert kommt die Bedrohung auf leisen Sohlen, unsichtbar durch den Äther und durch Glasfiberkabel. Im Zeitalter des Internets – seit der Erfindung der Buchdruckerkunst der folgenschwerste Quantensprung – wird immer weniger klar, wer von wem abhängt: der Mensch von der Maschine oder umgekehrt. Ob auf Kontrolle aufgebaute demokratische Regierungssysteme die Oberhand behalten über Technik und Dienste, ist eine offene Frage.

Der Gewaltverzicht in Europa muss auf Schutz vor Angriffen im Internet erweitert werden

Sich darüber zu erregen ist keine Politik. Es gilt, das scheinbar Unmögliche pragmatisch anzupacken. Es gilt, den im Nachkriegseuropa so erfolgreichen Gewaltverzicht inhaltlich und instrumentell zu erweitern. Es gilt, weltweit einen Verzicht auf Gewaltanwendung gegen Grundrechte und Freiheiten der Bürger im Internet und im Äther zu vereinbaren. Die Initiative dazu muss von den Technologie-Weltmächten ausgehen, allen voran den USA, China, Russland und der EU. Erklommen werden muss eine neue Stufe gemeinsamer Sicherheit. Man mag dies für illusionär halten. Aber eine vernünftige Alternative gibt es nicht. Das klingt utopisch, ist es aber nicht. George Orwells "1984" ist Wirklichkeit – wir müssen friedlich und kooperativ damit umgehen, und zwar mit, nicht gegen oder ohne Amerika. Amerika bleibt unser wichtigster Partner – gerade jetzt. Die Hoffnung, Europas Staaten könnten ihre jahrhundertealte Lust zum Krieg untereinander überwinden, galt 1945 auch als Illusion. Heute ist das Ziel erreicht. Die EU lebt.

Nein, die Welt steht nicht auf dem Kopf – wohl aber einige ihrer wichtigsten Lenker.  Sie müssen zurückkehren an den Tisch vernünftiger internationaler Politik. Dann – aber nur dann – wird es gelingen, den fatalen Wettbewerb der Datenstaubsauger zu  beenden.

Walther Stützle

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