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So sieht er sich am liebsten - als Präsident eines Landes, das im Kampf gegen Hitler-Deutschland die meisten Verluste zu beklagen und den triumphalsten Sieg errungen hat.

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70-Jahr-Feier der Anti-Hitler-Koalition: Putins D-Day

Bei den Feiern in der Normandie ist zum erstenmal die Ukraine vertreten. Das birgt historischen Sprengstoff, meint Malte Lehming. Denn Petro Poroschenko macht Russland zu Recht den Alleinvertretungsanspruch auf das Antifa-Erbe streitig. Nun kam es zu einer ersten Begegnung.

Die Geschichte kennt kein Recht auf Vergessen. Historiker zerren Quellen, Zeugnisse und Fakten ans Licht, hämmern ein, deuten und deuten um. Ihr Blick auf die Vergangenheit orientiert sich am Ideal des Perspektivenreichtums. Ihre Arbeit ist ein Aufstand gegen das Verdrängen. Das freilich wirkt sich auf die Gegenwart aus, auf das Selbstverständnis von Menschen und Nationen. Bis heute kämpfen Russen gegen den Faschismus, Amerikaner für die Freiheit, Franzosen für die Revolution, Briten aus imperialer Verantwortung und Deutsche, möglichst nur in zivil, für Einigkeit und Recht und Freiheit (in dieser Reihenfolge).

Vor 70 Jahren landeten alliierte Truppen in der Normandie. Die Anti-Hitler-Koalition befreite Europa vom Nationalsozialismus. Was simpel klingt, wurde nach 1945 ideologisch schnell von der Kaltkriegsrivalität überwölbt. Der Westen würdigte den Westen – also Amerikaner, Briten und Franzosen –, während die Opfer der Sowjetunion negiert oder mit den Verbrechen des Stalinismus und der Besetzung Osteuropas aufgerechnet wurden. Dabei starben im Zweiten Weltkrieg mehr als doppelt so viele Soldaten der Roten Armee als von westalliierter Seite und Wehrmacht zusammen.

Der Osten wiederum, sprich: Moskau, pachtete den Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“ für sich allein, der Beitrag der West-Alliierten wurde kleingeredet, die eigenen Opfer dienten der Legitimation kommunistischer Herrschaft. Der letzte Aspekt verschwand zwar mit dem Untergang der UdSSR, nicht aber die Übernahme des Antifa-Erbes. Auch Wladimir Putin versteht sich als Präsident eines Landes, das im Kampf gegen Hitler-Deutschland die meisten Verluste zu beklagen und den triumphalsten Sieg errungen habe.

Doch diese Selbstsicht gerät nun mit Wucht ins Wanken. Zum ersten Mal ist mit dem frisch gewählten Präsidenten der Ukraine, Petro Poroschenko, ein Land bei den Feierlichkeiten in der Normandie vertreten, das vor 70 Jahren zwar zur Sowjetunion gehörte, aber seit 1991 als souveräner Staat eine eigene geschichtliche Perspektive entwickelt hat. Dazu gehört, dass die Ukraine und Weißrussland im Zweiten Weltkrieg überproportional mehr Opfer gebracht haben als Russland. Poroschenko macht Putin zu Recht den Alleinvertretungsanspruch auf das Antifa-Erbe streitig. Das trifft Putin – und einen Großteil der Russen – ins Mark.

Ausgeschlossen aus der G8, die jetzt wieder G7 heißt, herausgefordert von einer geschlossenen Haltung des Westens, der bei Androhung neuer Sanktionen völker- und menschenrechtliche Prinzipien anmahnt – und jetzt durch Poroschenko und die Ukraine mit der selbstbewussten Haltung konfrontiert, dass das Antifa-Vermächtnis des Großen Vaterländischen Krieges sich durchaus vereinbaren lässt mit einer prowestlichen, proeuropäischen Orientierung, mit liberalen und demokratischen Werten: Kein Dinner im Elysée-Palast und kein Vieraugengespräch mit wem auch immer kann Putins Schwäche und Isolation übertünchen. Und der Faschismus-Vorwurf an die Adresse Kiews, der ja auch auf die Nachfahren ehemaliger sowjetischer Waffenbrüder zielt, wirkt nachgerade albern.

So tritt, zur 70-Jahr-Feier der Anti-Hitler-Koalition, erneut ins Bewusstsein, dass territoriale Annexionen in Europa unter Berufung auf ethnische Kriterien weder geduldet noch vergessen werden dürfen. Putin beim D-Day: Hoffentlich hört er die Botschaft.

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