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Der Berliner Diktator.

© Illustration: Klaus Stuttmann

80 Jahre Machtergreifung: Berlin, eine Radierung

Der 30. Januar 1933 öffnete Schleusen für Vertreibung und Vernichtung. Sie haben sich auch in das Leben und das Stadtbild der Hauptstadt tief eingeprägt.

Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen, lautete einer der Kernsätze der großen Rede, die Richard von Weizsäcker 1985 zum vierzigsten Jahrestag des Kriegsendes gehalten hat. Müssen wir, umgekehrt, den Tag der Machtübernahme mit dem des Kriegsendes zusammendenken? Die Erklärung des früheren Bundespräsidenten transportiert neben dem unbestreitbaren historischen Befund, dass das Ende des deutschen Reiches eine Konsequenz von Hitlers Machtergreifung war, vor allem einen moralischen Impuls: Die Deutschen sollten über den Leiden, die das Kriegsende für viele bereithielt, nicht die tieferen Ursachen für ihr Desaster vergessen. Die Zurückführung der deutschen Katastrophe auf den 30.Januar 1933 aber gibt diesem Tag so etwas wie einen apokalyptischen Rang. Sie macht diesen Montag im Januar vor achtzig Jahren zum Angelpunkt für das dritte Reich und seine Folgen.

Ist er das wirklich? Dem Tage selbst ist es jedenfalls nicht leicht abzulesen. Hitlers Machtübernahme vollzog sich als wacklige Regierungsbildung mit schmierentheaterhaften Zügen – noch im Vorzimmer des Reichspräsidenten wäre sie fast gescheitet, Hugenberg, der national-konservative Kumpan des braunen Desperados, machte sich schon zum Gehen bereit. Und schien sich nicht seit dem Jahresbeginn 1933 die politische Wetterlage zu wenden? Die Frankfurter Zeitung diagnostizierte vorsichtig die Rückkehr zur Vernunft, und der „Simplizissimus“ reimte in seinem Neujahrsgruß: „Hitler geht es an den Kragen / dieses ,Führers‘ Zeit ist um!“ Bleibt das Bild des gewaltigen abendlichen Fackelzugs durch das Brandenburger Tor, das – später nachgestellt, um die gewünschten Bilder zu erhalten – zur Ikone des nationalsozialistischen Sieges geworden ist. Immerhin konnte man da auch zu dem abfälligen Schluss kommen, dass sich Berlin in dieser Nacht, wie der kluge Chronist seiner Zeit, Harry Graf Kessler, notierte, „in reiner Faschingsstimmung“ befand.

Hermann Rudolph ist Herausgeber des Tagesspiegels.
Hermann Rudolph ist Herausgeber des Tagesspiegels.

© Doris Spiekerman-Klaas

Gewiss wurden die monströsen Züge von Hitlers Griff nach der Macht nicht übersehen. „Die Zeichen stehen auf Sturm“, resümierte die Vossische Zeitung im Leitartikel ihrer Abendausgabe vom 30. Januar 1933, und selbst die betont nationale „Deutsche Allgemeine Zeitung“ sprach von einem „Sprung ins Dunkle“. Doch diese Befürchtungen wurden relativiert, weil auch die Machtübernahme gewogen wurde mit den Gewichten der Weimarer Erfahrungen. Da erschien die Regierung Hitler dann eben als ein zeitgemäßes politisches Manöver, kaum unterschieden von all den Regierungs- und Stabilisierungsversuchen, die die Menschen in den vergangenen Jahren bereits erlebt hatten. Als ein Ereignis, eingetaucht in ein flackerndes, von Hoffnungen und Befürchtungen angefachtes Zeit-Bewusstsein, in dem auch noch die schlimmsten, also zutreffenden Ahnungen auf unsicherem Grund standen.

Weshalb die Ambivalenz das Bezeichnende und Beklemmende an diesem Tag bleibt. „Eisiger Schrecken“ sei seine Reaktion gewesen, als die Abendszeitungen gegen fünf Uhr Hitlers Ernennung meldeten, erinnerte sich Sebastian Haffner. Doch schon am Abend kam er im Austausch mit seinem Vater zu einer beruhigenden Deutung: „Eine schwarz-reaktionäre Regierung im ganzen, mit Hitler als Mundstück“, die „zwar die Chance hatte, eine ganze hübsche Menge Unheil anzurichten, aber kaum die Chance, lange zu regieren“. Erstaunlich viele Zeitgenossen nehmen diesen Schlüsseltag ähnlich wahr.

Der Tag bleibt ein "Wendepunkt der Weltgeschichte" (Heinrich August Winkler)

Wie er sich angebahnt hat und schließlich zum Ereignis wurde, ist hundertfach beschrieben worden: die Wahlsiege der NSDAP, das Regieren mit Notverordnungen, hastige Regierungswechsel, schließlich das hektische Endspiel der Spekulationen, taktischer Winkelzüge, Staatsstreichgerüchte, während Berlin auf den Presseball tanzt und die Wärmehallen überfüllt sind. Doch die Fragen, ob geschehen musste, was geschehen ist, haben nicht aufgehört: Musste Weimar untergehen? War die Machtergreifung zwangsläufig oder nur das Zufallsresultat unglücklicher politischer Manöver?

Dabei ist ja gar nicht zu bezweifeln, dass diesem Tag das Prädikat eines „Wendepunkts der Weltgeschichte“ (Heinrich August Winkler) zukommt. Gewiss kann man darüber streiten, ob es nicht der Reichstagsbrand war, von dem die tiefere Erschütterung ausging. Mit ihm setzen die Massenverhaftungen ein, am Tag danach wird die „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“ erlassen, die der staatlichen Ordnung buchstäblich die rechtlichen Grundlagen wegschlägt. Doch ohne die Übertragung der Macht an Hitler wäre das nicht möglich gewesen. Man kann auch finden, dass die Republik sich längst selbst aufgegeben hatte und auf dem Weg zu einem autoritären Regime war. Aber es war der 30. Januar, der diese Kapitulation in eine Zeitenwende verwandelte. Es ist die Machtergreifung, die die Pandora-Büchse öffnet.

Von nun an sind die Kräfte der Zerstörung, herangereift in Wirtschaftskrise und Straßenkämpfen, ins Freie entlassen. Von nun an ist kein Halten mehr, weil das politische Leben keinen Halt mehr hat. Der Rechtsstaat und die staatliche Ordnung werden um ihre Wirkung gebracht, die legale Macht von der Gewaltherrschaft überwältigt und schließlich so gut wie ersetzt. Eine Scheidelinie ist überschritten: Was vorher war, verliert seine Bedeutung, fällt kraftlos in sich zusammen, und es wird möglich, ja, bald auch Gewohnheit, was sich vorher niemand vorstellen konnte.

Denn der Machtübernahme auf der Regierungsebene folgt eine reale, brutale Machtergreifung, für die es in der Geschichte kaum ein Beispiel gibt. Die Nazis nennen sie „nationale Erhebung“, aber was sich in Deutschland erhebt, zum Rang einer Staatsdoktrin wird, sind die niederen Instinkte, sind der Boykott der Juden und die Gleichschaltung – zur höheren Ehre des „Führerstaats“, der Staat und Verwaltung vereinnahmt und auszehrt. Abgeräumt wird, was dem Machtanspruch der Nazis entgegensteht, die Parteien und der Einfluss der Parlamente, der Gewerkschaften, der Selbstverwaltung. Der französische Botschafter André François-Poncet, der am 30. Januar aus seiner Botschaft am Pariser Platz mit angehaltenem Atem den Fackelzug verfolgt hat, berichtet sechs Wochen später nach Paris, dass die „Dämme, die die Flut der Hitlerbewegung zurückhalten sollten, von der ersten Welle hinweggespült wurden“. Und Anfang April wundert sich selbst Goebbels: Alles geschehe „in einem derart atemberaubenden Tempo, dass man darüber kaum zur Besinnung kommt“.

Innerhalb weniger Monate übernehmen Willkürherrschaft und Terror in Deutschland das Kommando. Die Sprengung der Maßstäbe der Politik und des Zusammenlebens führen dazu, dass in einer Zeitspanne von zwei, drei Jahren aus einem zivilisierten Staat ein Herd von Militanz und Aggressivität wird. Es braucht nur sechs Jahre dieser zerstörerischen Dynamik, damit Deutschland Europa mit Krieg überzieht und den Kontinent mit einer Politik der Unterwerfung und der frivolen Verachtung gewachsener Strukturen in seinen Grundfesten erschüttert. Es ist nichts Geringeres als ein Angriff auf die Zivilisation, der schließlich in dem beispiellosen Zivilisationsbruch der Judenvernichtung gipfelt.

Gab es irgendwo einen Moment, in dem die Chance bestand, diese amokläuferische Bewegung aus eigener Kraft zu stoppen? Durch einen Aufstand der Anständigen, vielleicht doch immer noch der größere Teil der Gesellschaft? Durch Widerstand, der von Anfang an da war, wenn auch in bescheidenem Format? Oder im Sommer 1938, als Generäle gegen Hitlers Kriegskurs zu opponieren begannen? Die bittere Wahrheit ist wohl, dass Deutschlands Weg in den Abgrund von innen nicht mehr aufzuhalten war, nachdem die Diktatur des Dritten Reiches sich etabliert hatte. Das gibt dem 30. Januar 1933 den deprimierenden Grundton: Von da an ging’s bergab.

Nirgendwo ist der tiefe Sturz stärker wahrzunehmen als in Berlin.

Nirgendwo ist der tiefe Sturz, der die Folge dieses Tages ist, stärker wahrzunehmen als in Berlin. In der Reichshauptstadt fielen nicht nur die Entscheidungen, hier setzte sich das Regime in den Institutionen der Republik fest, hier etablierte es sich mit seiner ganzen diktatorischen Apparatur. Das alles ist am Wandel der Stadt abzulesen. Die Aufrüstung Berlins zur Hauptstadt des Großdeutschen Reiches, die die Welt beeindrucken sollte, während die Stadt zugleich zum Zentrum von Diktatur, Kriegsführung und Völkermord wurde, flößte ihr etwas Militantes, Großschnäuziges ein. Und der Versuch des Regimes, die Stadt und ihre Bürgerschaft nach seinen Vorstellungen zu formen, berührte tief ihren Lebensrhythmus

Den Nationalsozialisten sei es vor allem darum gegangen, „die Heterogenität der Reichshauptstadt, ihre Vielfalt zu zerstören“, ist der Schluss, den Michael Wildt und Christoph Kreutzmüller in dem eben erschienen Sammelband „Berlin 1933–1945“ ziehen (Siedler-Verlag). Das ist offenkundig vor allem in Bezug auf das Erscheinungsbild der Stadt. Das repräsentative Bauen der frühen dreißiger Jahre ging über in den Imponierstil des Dritten Reiches, der in das Stadtbild zunehmend einen auftrumpfenden Zug einführt. Die heftigste Attacke auf die Stadt – die größenwahnsinnigen Pläne, Berlin zur Hauptstadt Germania eines deutschen Weltreichs zu machen – kommen zwar über die Anfänge nicht hinaus. Aber das Gewaltunternehmen grub sich mit rabiaten Abrissen und Vertreibungen schon in die Stadt hinein und als städtebaulicher Albtraum und urbane Verstörung liegt es noch immer über Berlin.

Doch die Veränderung, die das Dritte Reich Berlin zufügte, reicht weiter und geht tiefer. Dabei ist es schwer, sich überhaupt einen Begriff davon zu machen, was für einen ungeheuren, nie wieder ausgeglichenen Einschnitt die Ausgrenzung, Vertreibung und Vernichtung der Juden für eine Stadt bedeutete, in der 1933 ein Drittel der deutschen Juden lebte! Der Kulturkampf, den die Nazis auf dem Feld von Literatur, Wissenschaft und Kunst führten, zog das gesamte öffentliche Leben Berlins in Mitleidenschaft. Seither ist die große Zeit Berlins vollendete Vergangenheit, versunkene Zeit – seine weltstädtische Entfaltung im späten 19. Jahrhunderts ebenso wie seine Rolle als Experimentierwerkstatt der Moderne, die in den Jahrzehnten danach ihren Ruhm ausmachte.

Zwingt das alles nicht dazu, die innere Zerstörung, die das Dritte Reich der Stadt zugefügt hat, mit ihrer äußeren Zerstörung in Verbindung zu bringen? In dem Sinne, dass das, was „mit Bücherverbrennungen, Verboten, Vertreibungen, Einkerkerungen und Morden begann“, wie Wolfgang Schivelbusch gefolgert hat, „sein Schreckensende in der großen Gesamtruinierung der Stadt“ fand? Jedenfalls bezahlt Berlin für seine Rolle im Dritten Reich mit den häufigsten Luftangriffen auf dem Kontinent. 1945 wird es zudem Schauplatz des letzten Aktes des Zweiten Weltkriegs, der Schlacht um Berlin. Zwölf Jahr nach dem Fackelzug durchs Brandenburger Tor ist die Stadt selbst ein „brennender, rauchender, explodierender und Tod verbreitender Vulkan“, so der Eindruck eines amerikanischen Offiziers, der die Stadt am Tage der Kapitulation überfliegt. Am Ende der Träume von der Welthauptstadt steht das boshaft-makabre Bild Bertolt Brechts: „Berlin, eine Radierung von Churchill nach einer Idee von Hitler“.

Noch über dem Nachkriegs-Berlin steht lange der Riesenschatten dieses Jahrzwölfts. Gewiss, die Teilung der Stadt war keine unmittelbare Folge dieses 30. Januar 1933, sie hatte ihren Ursprung in Jalta und im Kalten Krieg. Aber wären die Deutschen ohne den Weg in die Katastrophe, den sie damals eingeschlagen haben, zu Opfern und Mitträgern dieses säkularen Konflikts geworden? Bis zum Tage und selbst noch in der unglaublichen Wiederauferstehung der Stadt seit der Wende spürt man den Anhauch der ungeheuren, nicht geheuren Geschehnisse, die hier stattgefunden haben. Woher sonst die Leere, die noch immer überall in der Stadt nistet? Woher das Disparate und Gebrochene des Stadtbildes? Sie ist ja auch voll von Erinnerungsposten, und kaum jemand verwundert sich, wenn beispielsweise der Bau des Tiergartentunnels, ein Parade-Unternehmen des neuen Berlins, unter der Erde den Fundamenten von Speers Germania begegnete.

Man muss nur die Entwicklung von Metropolen wie Paris und London als Koordinate europäischer Urbanität an Berlin anlegen, um zu begreifen, wie sehr die Stadt davon abweicht. Sie ist die Folge der Bahn, in die das Dritte Reich und letztlich der 30. Januar 1933 das Land und mit ihm die Stadt gestoßen hat.

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