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Meinung: Aber bitte mit Streuselkuchen

Pascale Hugues, Le Point

Sie haben sich fein gemacht für den Arztbesuch, es ist ihr großer Ausgehtag. Die eine trägt ein busfahrerblaues Kostüm, die andere hat die Haare zu einem seidigen, weißen Knoten gewunden, der über dem rosigen Rund ihrer Stirn thront. Sie heißen Liselotte oder Erna, Hildegard oder Anna. Krampfadern zieren ihre Waden, ab und zu geben ihre Gebisse ein trockenes Klackern von sich. Erna hört nicht mehr so gut, Liselotte stützt sich beim Laufen auf einen Stock. Ihre Körper mögen verlebt sein, aber ihr Geist ist rege, und ihr Gespräch springt munter von Anekdote zu Anekdote: Krankheiten, Eierlikör, günstige Mieder, Schlagsahne, Herzschrittmacher, Bohnenkaffee, Kukident und Streuselkuchen. „Der Streuselkuchen!“, sagt Erna. Ihre Stimme ist durchdringend und krächzend, sie verdrängt die Stille des Wartesaals, wo ein Dutzend Menschen darauf warten, dass der Lautsprecher ihre Namen aufruft. „Der Streuselkuchen schmeckt am besten bei Café Meyer“, schnarrt Erna, „aber bei Krüger isser jünstiger.“ Liselotte nickt, warnt aber vor den Gefahren des Gebäcks: „Mein Mann hat ’n hohen Preis jezahlt für den Streuselkuchen. Der hatte Zucker, und Cholesterin ooch noch. Den Streuselkuchen hat er trotzdem jeliebt, jeden Tag ein Stück. Det hat er mit dem Leben bezahlt, plötzlich war er weg. Der Doktor hat jesagt: ,Det war der Streuselkuchen.‘“ Es folgt ein markerschütternder Lachanfall.

Ich betrachte die beiden. 80 lange Jahre. Geboren zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts. Sie haben den Krieg überlebt und ihre Stadt in Ruinen gesehen. Sie haben ihre Kinder großgezogen, ihre Männer verloren. Ihre Freundinnen sind eine nach der anderen gestorben. Sie sind allein, sie sind die letzten Überlebenden einer vergangenen Welt. Der Lautsprecher knistert. „Nummer 3.“ Erna steht auf, um zur Blutprobe zu gehen. „Wennde übers Leben nich mehr lachen kannst“, wirft sie den Wartenden über die Schulter zu, „denn kannste dir ooch gleich an der nächsten Laterne uffhängen.“

Gibt es etwas, das Berlin besser beschreibt als seine alten Frauen? Ihr derber Witz ist ein Hohnlachen über alle Katastrophen ihres Lebens, eine Rache für alle Blessuren am geschundenen Körper ihrer Stadt. Die alten Berlinerinnen mögen nicht die fragile Grazie der greisen Pariserinnen haben, die mit ihren Handschuhen, ihren koketten Hütchen und einem Hauch von Guerlain-Parfüm durch die besseren Viertel flanieren.

Sie ähneln auch nicht den alten Witwen von Athen mit ihren kleinen schwarzen Wolljäckchen, die aussehen, als hätten sie ihr ganzes Leben lang Trauer getragen. Erna und Liselotte sind aus Steglitz, ihnen fehlt die vermögende Eleganz der Wilmersdorfer Witwen: Sie tragen keine Pelzkragen, sie haben weder Altbauwohnung noch Biedermeiersofa, sie haben keinen Dackel und gehen auch nicht ins KaDeWe. Stattdessen leben sie mit der Steglitzer Grundversorgung: Kittelschürze, Schrebergarten, Sparkasse, Aldi und ein gelber Kanarienvogel, der in seinem Käfig über dem Küchenbecken vor sich hin trällert.

Erna und Liselotte sind Trümmerfrauen, sie haben den Schutt ihrer Stadt umgewälzt, sie sind burschikose Hausfrauen, denen man nichts vormachen kann. Sie brauchen weder Botox noch Anti- Age-Vitamin-Cocktails, auf ihren verwitterten Wangen glänzt nicht mal eine Spur von Rouge. Sie tragen ihr Alter wie eine Trophäe, und sie besitzen eine Kraft, die nachfolgende Generationen gar nicht mehr kennen. Misshandelt vom Leben und der verworrenen Geschichte ihrer Stadt, haben sie die Weisheit der Demut entdeckt, jene dreiste Leichtigkeit, die sich wohl nur im Widerstand gegen Not herausbildet. Und verbal kann ihnen eh keine grüne Pflanze dieser Stadt das Wasser reichen.

Am Rande dieser jungen, hippen, schnellen Hauptstadt schleichen die alten Berlinerinnen mit gebeugten Rücken über die Bürgersteige. Mit kleinen, wackligen Schritten mühen sie sich voran. Sie sind fast durchsichtig. Im Kielwasser ihrer Schritte verlangsamt sich die Stadt, bleibt die Zeit stehen. Von Jahr zu Jahr werden sie weniger. Und ein Stück von Berlin wird mit Erna und Liselotte sterben.

Aus dem Französischen übersetzt von Jens Mühling.

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