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Meinung: Abschied von Clintons Welt

Ein Präsident John Kerry wäre für Europa kein leichterer Partner als George W. Bush

Bill Clintons Auftritt auf dem Parteitag der Demokraten in Boston war Balsam für die Seele. Nicht nur für die seiner Parteifreunde, die immer noch nicht verwunden haben, dass Al Gore vor vier Jahren die Wahl gegen Bush wegen einer Richterentscheidung verloren hat. Er war auch Balsam für die Seele vieler Europäer, die sich nichts sehnlicher wünschen, als dass die Amerikaner Bush bei den Wahlen im November in die texanische Wüste schicken.

Doch wer in Europa glaubt, mit einem Präsidenten John Kerry kehrten auch die goldenen 90er Jahre von „Charming Bill“ zurück, dürfte enttäuscht werden. Nicht nur deshalb, weil die 90er gar nicht so rosig waren wie die Erinnerung viele glauben machen will. Schließlich waren Clintons Positionen zu europäischen Herzensthemen wie dem Kyoto-Protokoll zum Klimaschutz oder dem Internationalen Strafgerichtshof nicht viel anders als die der Bush–Regierung – allenfalls vertrat er sie im Ton konzilianter.

Wichtiger noch: Die Zeiten sind andere. Selbst Bill könnte heute nicht mehr so einfach jenen coolen Clinton geben, der in Prag in einer Bar ein Saxofonsolo hinlegte oder in Berlin spontan eine Brasserie am Kollwitzplatz besuchte. Die Themen dieses im Ausland wohl populärsten US-Präsidenten der letzten Jahrzehnte waren Wirtschaft, Bildung, weniger Abgaben für die Mittelschicht und das Informationszeitalter. Seit dem 11. September jedoch ist alles anders. Clintons Welt gibt es nicht mehr.

Nicht die Innen-, sondern die Außen- und Sicherheitspolitik ist seither Trumpf. Zum ersten Mal sind auf einem Nominierungsparteitag der Demokraten zahlreiche Vietnamveteranen zu sehen; sie sollen Kerrys Besonnenheit als Schnellbootkommandeur herausstellen. Darum geht es im Wahlkampf: Wer macht Amerika sicherer, wer ist der bessere Kriegspräsident. Amerika fühlt sich immer noch im Krieg – im Irak und gegen den weltweiten Terror. Kerrys Slogan lautet denn auch „stronger at home, and respected in the world“. Bush habe mit seinen Alleingängen Verbündete vergrätzt, die Amerika im Kampf gegen die terroristische Bedrohung noch brauchen wird.

Kerrys Botschaft an die Welt ist also nicht, wie viele Europäer hoffen: Irak und Afghanistan waren die Ausnahme, unter Kerry wird alles wie früher. Im Gegenteil, der Kandidat der Demokraten sagt: Es gibt noch viel aufzuräumen in der Welt, da können wir es uns nicht leisten, auf uns allein gestellt zu sein.

Bei den wichtigsten transatlantischen Streitthemen der letzten Jahre – Irak und Nahostkonflikt – vertritt Kerry heute fast dieselben Positionen wie Bush. Auch das zuweilen als paternalistisch kritisierte Demokratisierungsprojekt für den Nahen und Mittleren Osten trägt er mit. Und was die Vereinten Nationen betrifft, wird sich Kerry sicherlich mehr Mühe geben, im Einklang mit der Internationalen Gemeinschaft zu agieren. Aber er hat auch klargemacht: Wenn es nicht anders geht, lassen wir uns nicht die Hände binden.

In gewisser Weise hat es Bush seinen Kritikern auf dem Kontinent sehr einfach gemacht: Die rüden Ausfälle seiner scharfen Terrier wie Rumsfeld, Wolfowitz oder Cheney, Bushs Art, staatsmännische Reden mit religiöser Rhetorik zu durchwirken, die Lügen und Übertreibungen, mit denen der Irakkrieg betrieben wurde – all das hat dazu geführt, dass man in Europa mit einer fast allergischen Gereiztheit auf alles, was aus Washington kommt, reagiert. Bushs Regierung hat vielen Staaten so einen willkommenen Vorwand geliefert, sich zu verweigern. Einem Präsidenten Kerry hingegen müsste man erst einmal zuhören. Ihm Bitten abzuschlagen, dürfte schwerer fallen als bei Bush.

Schon macht man sich in europäischen Regierungskreisen Sorgen. Was tun, wenn Präsident Kerry demütig nach Europa kommt und sagt: Bush hat uns im Irak ein Desaster beschert, jetzt brauche ich eure Hilfe. Der Spagat der Kriegsgegner, erst eine Rolle der UN im Irak zu fordern und sich dann taub zu stellen, wenn Kofi Annan um Truppen zum Schutz der UN-Mission in Bagdad bittet – das wird dann nicht mehr so leicht gehen. Denn darauf könnte Kerry bestehen: Wer mitreden will, muss auch mittun. Amerikanisch-diplomatisch ausgedrückt: Für die europäische Außenpolitik wäre ein Präsident John Kerry die größere Herausforderung.

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