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Meinung: Abschied von der Neutralität

Die berühmte Schweizergarde im Vatikan ist bislang der einzige militärische Beitrag, zu dem sich die Eidgenossen dauerhaft verpflichtet haben. Doch bald könnte Bern gefordert sein, mehr als jene 100 Mann ins Ausland zu entsenden, die den Papst schützen.

Von Hans Monath

Die berühmte Schweizergarde im Vatikan ist bislang der einzige militärische Beitrag, zu dem sich die Eidgenossen dauerhaft verpflichtet haben. Doch bald könnte Bern gefordert sein, mehr als jene 100 Mann ins Ausland zu entsenden, die den Papst schützen. Heute entscheiden die Schweizer in einer Volksabstimmung, ob ihr Land UN-Mitglied werden soll. Die Chancen, dass die Schweiz das Dogma der Neutralität aufgibt, sind günstiger als beim ersten Referendum vor sechs Jahren.

Abschied von der Neutralität? Der über Jahrzehnte hochgehaltene Leitbegriff hat inzwischen kaum mehr praktische Bedeutung als Werbung auf einer leeren Packung. Nur beim Militär lässt sich die Illusion der Unabhängigkeit noch bewahren - aber auch da profitiert die Schweiz als Insel in der Nato stillschweigend von einer Sicherheitsleistung, die andere erbringen. Ebenso Österreich, das sich trotz "immerwährender Neutralität" im Staatsvertrag von 1955 im Konfliktfall auf den Schutz der Allianz verlassen durfte.

In Wirtschaft und Politik ist Neutralität nur noch ein leerer Begriff. Der EU wollten die Schweizer aus Angst um ihre Unabhängigkeit nicht beitreten. So vollzieht ihr Parlament regelmäßig Brüsseler Entscheidungen nach - bis hin zur millimetergetreuen Übernahme technischer EU-Standards für die Industrieproduktion. Die Schweiz ist da alles andere als unabhängig: Wenn ihre Betriebe nicht nach EU-Norm produzieren, lassen sich die Waren schwerer absetzen. Genau genommen übernimmt die Schweiz in angeblicher Souveränität Normen, die sie nicht beeinflussen konnte, weil sie in Brüssel nicht mit am Tisch sitzt.

Die Schweizer haben die Wahl, die Verflechtung stillschweigend zu erleiden oder sich dazu zu bekennen und eine entwertete Autonomie einzutauschen gegen die Chance, mitzuentscheiden - technisch, politisch, wirtschaftlich. Mit den Vereinten Nationen ist die Schweiz bereits eng verknüpft, acht UN-Agenturen haben dort ihren Sitz. Bern zahlt schon so viel Geld an die UN, dass nicht viel fehlt zum Beitrag eines Vollmitglieds.

Auch anderswo sind die Anhänger der Neutralität unter Druck geraten. Während der Ost-West-Konfrontation war militärische Neutralität für Kleinstaaten wie Finnland und Österreich eine Existenzbedingung. In Deutschland begeisterten sich viele nach dem Weltkrieg für die Idee der Neutralität - um so die Einheit wiederzugewinnen. Das war schon 1952, als Stalin seinen Vorschlag machte, keine reale Option. Ein Machtpotenzial wie das Deutschlands wird durch Einbindung in EU und Nato entschärft, nicht durch Alleinstellung.

Die Mittelmacht Deutschland kann für die Schweiz kein Beispiel sein, die Erfahrungen kleinerer Völker mit Neutralitäts-Tendenzen schon eher. Vor allem in der Ökonomie gilt zuverlässig: Wer nicht mitspielt, dem wird mitgespielt. Die Dänen lehnten in einer Volksabstimmung im Sommer 2000 die Übernahme des Euro ab. Ihre Währungspolitik wird dennoch von der Europäischen Zentralbank in Frankfurt gemacht - ohne dass die Dänen dabei sind.

In den drei Staaten Europas, die sich zu militärischer Neutralität verpflichtet haben, wird dieser Status immer häufiger in Frage gestellt: Finnland, Schweden und Österreich. Wer einen engen Begriff von Sicherheit hat und es für die Hauptbedrohung hält, in einen Konflikt der Großmächte hineingezogen zu werden, der mag in der Neutralität sein Heil suchen. Gegen terroristische Bedrohung, ökologische Krisen und Flüchtlingsströme hilft nur internationale Zusammenarbeit.

Wenn Russland es erträgt, dass die Nato sich ins Baltikum ausdehnt und US-Soldaten in Georgien stehen, was sollte Wladimir Putin dann gegen einen Nato-Beitritt Wiens einzuwenden haben? Bald könnte es nur noch einen Flecken in Europa geben, der strikt auf seine Neutralität pocht: der Vatikan-Staat. Aber den schützt nicht nur die Schweizergarde, sondern eine höhere Instanz.

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