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Afghanistan-Einsatz: Deutschlands Irak

Versinkt Afghanistan bald im Chaos? Die Europäer jedenfalls begehen zwei Fehler: Sie denken zu westlich und wollen zu viel.

Sie wollen nur noch raus, möchten keine Nachrichten mehr hören von entführten Deutschen und erschossenen Geiseln, von Selbstmordanschlägen und toten Soldaten – gefallen bei der Verteidigung einer Freiheit und Demokratie, die nicht kommen mag. Zwei Drittel der Deutschen sind für den Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan. Es ist eine Stimmung wie in den USA, wo eine ähnlich große Mehrheit ein Ende des unseligen Irakkriegs ihres Präsidenten George W. Bush wünscht.

Die „German, go home“-Sehnsucht wird über den Sommer noch zunehmen: mit neuen Meldungen über zivile Opfer bei Bombenangriffen der Nato auf die Taliban, weiteren Entführungen und Todesfällen. Der Afghanistaneinsatz ist in keiner Partei populär. Wer mag noch auf eine klare Mehrheit für die Verlängerung des Bundeswehrmandats im Herbst wetten? Die bedrohlichsten Absatzbewegungen von der Regierungspolitik erlebt die SPD. Die Grünen zittern einem Sonderparteitag entgegen. Auch in der CDU sind die Reihen längst nicht mehr geschlossen. In der FDP rangiert Populismus in der Außenpolitik seit geraumer Zeit vor weltpolitischer Verantwortung.

Noch liegen Welten zwischen beiden Kriegsschauplätzen. Aber die Irakisierung Afghanistans schreitet voran, nicht nur im umkämpften Süden und Osten, sondern auch im vermeintlich sicheren Norden, wo die Bundeswehr agiert. Binnen zwölf Monaten hat sich die Zahl der Selbstmordattentate versechsfacht, die der Feuerüberfälle auf westliche Soldaten verdreifacht. Die Taliban, die aus dem bergigen pakistanischen Grenzgebiet operieren, kontrollieren nun ein vier Mal so großes Gebiet wie vor Jahresfrist.

Vereint begehen Europäer und Amerikaner in Afghanistan so ziemlich dieselben Fehler, die Irakkriegsgegner üblicherweise der Bush-Regierung als Ursache ihres Scheiterns im Mittleren Osten vorhalten: mangelnde Vorbereitung, kulturelle Ignoranz, Werte-Imperialismus. Freundlicher gesagt: Die Besatzungs- und Wiederaufbaupolitik folgt zu sehr westlichen Vorstellungen von einer wünschenswerten Gesellschaftsordnung und nimmt zu wenig Rücksicht auf die regionalen Gegebenheiten. Die Regierungen in Europa und den USA reden ihren Bürgern nach dem Mund, um den Rückhalt für den Einsatz zu sichern, statt nach den Bedürfnissen der Afghanen zu fragen. Das führt ins Desaster.

Schon warnen geopolitische Vordenker, welche Folgen es wohl hätte, wenn der Westen – eben noch Sieger über den Kommunismus – gleich zwei Kriege verlöre, Irak und Afghanistan. Wenn er doppelt versagte beim Versuch, einer islamischen Gesellschaft den Weg zu einer freiheitlichen Ordnung zu öffnen durch Sturz der Diktatur und massive Aufbauhilfe, begleitet von einem langen, teuren Militäreinsatz. Wäre es das Ende der Nato? Würde die Bereitschaft, unterdrückten Völkern gegen Despoten zu helfen, für Jahrzehnte schwinden? Der Irakkrieg ist wohl unumkehrbar verloren. Afghanistan wäre vermutlich noch zu retten – wenn die Fehler eingestanden und korrigiert werden.

Bisher fehlt diese Bereitschaft. Man führt Ersatzdebatten. Nach deutscher Lesart ist die Schießwütigkeit der Amerikaner das Hauptproblem: Der Rückhalt in der afghanischen Bevölkerung schwinde, weil bei der Abwehr der Taliban zu viele Zivilisten sterben – Opfer unüberlegter Bombenangriffe auf angebliche Widerstandsnester. Also möchte die deutsche Politik nun zwischen dem „bösen“ Militäreinsatz Operation Enduring Freedom (OEF) und der „guten“ Wiederaufbauarbeit der Isaf trennen und die Bundeswehr aus OEF herauslösen, um eine Bundestagsmehrheit für das Isaf-Mandat zu retten.

Aus Sicht der Amerikaner, Briten, Kanadier, Niederländer, Rumänen und Balten, die die Kämpfe gegen die Taliban führen, ist dagegen die mangelnde Solidarität in der Nato ein Problem. Die deutschen und anderen Partner, die ihre Einsätze auf den ruhigeren Norden beschränken und keine Soldaten für die blutigen Gefechte stellen, hätten gut reden. Ohne die Luftüberlegenheit der Nato wäre die Lage im Süden und Osten längst aussichtslos. Zivile Opfer seien kaum zu vermeiden, weil die Taliban es gezielt darauf anlegten, diese Bilder zu provozieren. Sie treiben Kinder in ihre Stellungen, ergab die Untersuchung eines jüngeren Zwischenfalls. Zivilisten und Kämpfer lassen sich kaum unterscheiden, wenn man nicht gerade eine rauchende Waffe findet. Die Taliban tragen keine Uniform.

Beide Seiten haben recht, sind aber auch ein bisschen selbstgerecht. Im deutschen Einsatzrevier im Norden ist es vor allem friedlicher, weil das kein Talibangebiet ist – nicht, weil die Deutschen ein besseres Konzept verfolgen. Wäre die Bundeswehr im umkämpften Süden, müsste auch sie ins Gefecht gehen. Amerikaner überschätzen den Wert von Spezialwaffen und Kampftruppen und unterschätzen die Aussichten ziviler Konfliktlösung. Wäre dies ein Manöver und nicht blutiger Ernst, könnten Amerikaner und Deutsche ihre Einsatzgebiete tauschen – mit der veränderten Umgebung wüchse das Verständnis für die Notwendigkeiten.

Hauptursache der wachsenden Schwierigkeiten sind aber nicht die taktischen Unterschiede. Es ist der ganze Ansatz. Der Weg in die Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert. Afghanistan sollte ein Lehrbuchfall werden für den Übergang eines kriegsgeplagten Landes zu Rechtsstaat und Demokratie, Frauen- und Minderheitenschutz. Deutschland war ganz vorn dabei, als Gastgeber der Petersberg-Konferenz, die den Fahrplan entwarf – mehr als ein Jahr, bevor Bush 2003 den Irakkrieg begann. Seither sollte Afghanistan als gutes Gegenbeispiel zum bösen Irak dienen.

Am Hindukusch hatte Al Qaida unter dem Schutz der Taliban den Terrorangriff vom 11. September 2001 geplant. Der Krieg zu deren Sturz war also gerecht und begründet. Die UN hatten ihn abgesegnet, die Nato erstmals den Verteidigungsfall erklärt. Kabul fiel nach wenigen Wochen. Es folgte das Märchenbuch von Befreiung, Befriedung, Demokratisierung und „Nation building“: Eine internationale Geberkonferenz versprach Milliarden für Schulen und Straßen. Das Volk gab sich eine neue Verfassung und hielt freie Wahlen ab. Die Wirtschaft sprang an. Offiziell ist die Besatzung zu Ende, die Macht übt eine afghanische Regierung aus. Die Nato ist nur noch da, um ihr zu helfen.

Nur leider mag die Realität der Theorie des richtigen und des falschen Kriegs nicht folgen. Der geringe Rückhalt in der Bevölkerung hat gewiss auch mit zivilen Opfern der Nato zu tun, vor allem aber mit zwei anderen Faktoren: Die Einheimischen sehen, in welche Richtung sich die Dinge entwickeln. Sie zweifeln, dass die Nato sich auf Dauer gegen die Taliban durchsetzt, und zögern, sich offen auf deren Seite zu stellen. Der Süden und Osten ist zudem Paschtunengebiet, dort hatten die Taliban schon früher den größten Rückhalt.

Genau wie die Amerikaner im Irak wollten Deutsche und Europäer in Afghanistan ein Abbild ihrer Gesellschaftsordnung aufbauen, schließlich halten sie die vor dem Hintergrund ihrer Geschichte für die denkbar beste. Mit einer demokratischen Verfassung, freien Wahlen, einem Strafrecht, das nicht der „mittelalterlichen“ Scharia folgt, mit gleichen Bürgerrechten für Frauen, für ethnische und religiöse Minderheiten – und mit einer Zentralregierung, die diese Ordnung überall durchsetzt.

Nichts an diesen Zielen ist falsch. Nur sind dies nicht die Prioritäten einer Stammesgesellschaft, die seit 30 Jahren im Bürgerkrieg lebt, im Zweifel der Rechtsprechung von Ältestenrat und muslimischer Geistlichkeit folgt und selbst in der Erinnerung der ältesten Bürger keine Zentralregierung mit realem Machtanspruch in den Provinzen kannte. Das heißt nicht, dass den Afghanen das Demokratie-Gen fehlt. Oder dass afghanische Mädchen nicht gerne in die Schule gingen und gleichberechtigt sein wollten. Doch die primären Bedürfnisse nach der Zeit der sowjetischen Besatzung, rauschgiftfinanziertem Mudschaheddin-Stammeskrieg und Taliban-Diktatur waren Sicherheit für Leib und Leben, tägliche Nahrung und ein Dach über dem Kopf – nicht eine neue Verfassung, rasche Wahlen und die Bilder von lachenden Schulmädchen.

Warum musste der Westen den fünften und sechsten Schritt vor dem ersten tun? Die ikonenhaften Wegmarken demokratischer Moderne brauchten Bush, Schröder, Fischer und Chirac für ihre Bürger daheim – und brauchen jetzt Merkel, Steinmeier und Sarkozy. 1945 hatten die Alliierten in Deutschland und Japan nicht die merkwürdige Idee, dass freie Wahlen die drängendste Aufgabe sind. Erst kamen Notmaßnahmen wie Ruhe, Ordnung, Nahrung. Die Legitimation durch Verfassung und Wahlen konnte warten.

Auch der Justizaufbau in Afghanistan (durch die Italiener) oder die Polizeiausbildung (durch die Deutschen) folgten den Bedürfnissen der Heimatfront, nicht der afghanischen Realität. In der Theorie war alles durchdacht. Deutschland bildet nicht Polizisten aus, sondern deren Ausbilder. Das kostet zwar Zeit, aber danach ist die Schneeballwirkung umso größer. Natürlich gehörten alle historischen Errungenschaften der Bundesrepublik dazu: Trennung der Polizei von der Armee, von den Geheimdiensten; Grundrechte und Beweissicherung.

In der Praxis widersprechen auch Deutsche kaum noch, wenn die Bilanz ihrer Bemühungen international als Desaster gilt. Bis heute fehlt es an durchsetzungsfähigen Polizisten. Afghanistan bräuchte eine paramilitärische Truppe, ein Mittelding zwischen Armee und Polizei. Die Italiener scheitern ebenso beim Versuch, dem schariageprägten Land ein europäisches Rechtssystem überzustülpen.

Sechs Jahre nach dem Sturz der Taliban leisten afghanische Soldaten und Polizisten noch immer keinen entscheidenden Beitrag zur Sicherheit, obwohl Milliarden in ihre Ausbildung und Ausrüstung flossen. US-Armee und Nato bilden weiter das Rückgrat der Stabilisierung und der Abwehr des Widerstands. Auch politisch ist der Westen der einzige Verteidiger eines afghanischen Staates. Afghanische Politiker kämpfen für die Sonderinteressen ihres Stammes, ihrer Region, ihrer Religionsgruppe. Die Verantwortung für das große Ganze haben sie bei Isaf und OEF abgegeben.

Der Westen wollte zu viel auf einmal, in zu kurzer Zeit, mit zu geringen Mitteln. Deshalb steht er vor dem Scheitern. Er muss viel bescheidener in seinen Zielen werden und sich zugleich viel mehr anstrengen. 40 000 Soldaten, nur wenig mehr als bei der Befriedung des Kosovo – aber in einem 60 Mal so weiten Gebiet – reichen nicht aus, zumal Probleme und Widerstand ungleich größer sind. Die Ordnungsgrößen sind das Dorf und der Clan, die Religion, die Region und die Volksgruppe. Sie wären die richtigen Ansprechpartner, nicht eine künstliche Zentralregierung in Kabul. Diese Einheiten muss man in die Lage versetzen, die Grundbedürfnisse zu sichern: persönliche Sicherheit, Essen, Wasser, Strom und eine Arbeit, die die Familie ernährt.

Um Erfolg zu haben, werden die Nato und die Aufbauhelfer die Strukturen und Autoritäten einbinden müssen, die westlichen Vorstellungen nicht sonderlich sympathisch sind, aber nun einmal realen Einfluss haben: regionale Warlords, Drogenschmuggler, örtliche Milizen, religiöse Führer mit einem für Europäer unannehmbaren Frauenbild. Wer die wahren Träger der Macht zu übergehen versucht, vernichtet ihre Bereitschaft, beim Aufbau mitzuhelfen – und macht sie womöglich zu tödlichen Feinden der westlichen Soldaten.

Aber kann die Bundesregierung für einen zweiten Anlauf mit so bescheidenen Zielen noch einmal die Unterstützung ihrer Bürger mobilisieren, während die Meldungen über deutsche Geiseln, zivile Bombenopfer und tote Nato-Soldaten nicht abreißen? Sind westliche Gesellschaften überhaupt bereit, Länder wie Afghanistan oder den Irak zu unterstützen, wenn die nicht – oder noch nicht – westlichen Idealen folgen, sondern eine Ordnung anstreben, die Europäer und Amerikaner falsch finden?

Die Alternative ist ein langsames Scheitern, ein erzwungener Abzug, der womöglich einer Flucht und Niederlage gleicht, wie im Irak. Hässliche Szenen werden folgen, wenn die Taliban an die Macht zurückkehren oder Afghanistan in neuen Bürgerkrieg stürzt. Noch viel mehr Blut wird fließen, und Mädchen werden nicht einmal in einer Burka in die Schule gehen. Aber es wird kein westliches Blut mehr sein, das da fließt. Vielleicht schauen wir dann einfach nicht mehr hin, so wie vor dem in Afghanistan geplanten Terrorangriff vom 11. September 2001.

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