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Alle wollen eine Mietpreisbindung: Politische Komfortzone

Ein Land, dem nicht mehr die kühle Analyse als Maß für das politische Handeln gilt, sondern der soziale Windchill-Faktor, verliert den Sinn für die Realität.

Nicht die tatsächliche Temperatur sei wichtig, erklärten die Meteorologen in den 1990er Jahren, sondern die gefühlte. Manchmal ist es gefühlt wärmer (Hitzeindex), manchmal gefühlt kälter (Windchill-Faktor) als die echte Temperatur. Deutschland war begeistert und machte mit. Aber warum nur das Wetter fühlen? Die neue Kategorie ließe sich problemlos auf alle Bereiche des Lebens anwenden. Wirtschaftswachstum? Unwichtig, solange wir uns gut und nachhaltig fühlen. Stromkosten? Egal, solange es für eine gute Sache ist. Freiheit? Ach was – es zählt die Gleichheit, in der wir es uns behaglich machen. Die neue Empfindsamkeit verdrängt den Verstand, die Objektivität, die Sachlichkeit.

Beispiel Gleichheit. Gefühlt wird das Land immer ungleicher. Objektiv aber geht die Ungleichheit in Deutschland seit 2005 zurück, seitdem die Löhne wieder steigen und die Kapitalerträge der Vermögenden wegen der Finanzkrise schrumpfen. Beispiel Mieten: Gefühlt leidet das Land unter dramatisch steigenden Mieten. Tatsächlich aber hat Deutschland eine Million Einwohner weniger als gedacht, dafür 500 000 Wohnungen mehr. Beispiel Altersarmut: Gefühlt lebt die ältere Generation schon heute im Armenhaus. Tatsächlich aber ging es den Alten nie so gut wie heute.

Anstatt die Probleme da zu lösen, wo sie sind, werden sie dort gelöst, wo sie gefühlt werden: Alle Parteien wollen Mietsteigerungen in ganz Deutschland bekämpfen, dabei würde es reichen, wenn sie in einzelnen, großstädtischen Regionen das Bauen erleichterten. Alle versprechen üppige Aufschläge für Rentner – dabei sind die Alten von heute nicht betroffen, und die Pensionisten von morgen werden für ihren Lebensstandard länger arbeiten müssen, anstatt mehr Rente erwarten zu können.

Wer so etwas ausspricht, wird umgehend der Todsünde des Zynismus bezichtigt. Wer gehört werden will, muss warm reden, emotional, authentisch. Die Komfortzone des Bürgertums ist mit Diskursfähigkeit und Meinungspluralismus eingerichtet. Nur solange eine Gesellschaft die Balance halten kann zwischen Gefühl und Vernunft, sind Emotionalität und Intuition eine gute Sache. Ein Land, dem nicht mehr die kühle Analyse als Maß für das politische Handeln gilt, sondern der soziale Windchill-Faktor, hat zwar starke Gefühle, aber keinen Sinn für die Realität.

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