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Meinung: Allez les Schwarz-Rot-Goldenen!

Pascale Hugues, Le Point

Eingehüllt in ein Flaggenmeer ähnelt Berlin dieser Tage den Champs Elysées am 14. Juli. Es fehlt nur ein Präsident in offener Staatskarosse, der den jubelnden Volksmassen mit lässiger Hand kleine blasierte Gesten zuwirft. Und dröhnende Jagdflieger, die Arabesken aus dreifarbigem Rauch in den Sommerhimmel zeichnen. Dann wäre das Bild komplett.

Aber auch so: kaum ein Quadratzentimeter Haut, kein Balkon, kein Auto ohne Deutschlandflagge. Im Morgengrauen zelebriert sogar der Müllwagen unter meinem Fenster mit seinen zwei kleinen schwarz-rot-goldenen Trikoloren einen dröhnenden Fahnenappell. Fehlt nur noch ein Fanfarenstoß, um die komplette Straße aus dem Schlaf schrecken zu lassen. In der Motzstraße haben die schwarz-rot-goldenen Flaggen inzwischen die Regenbogenfahnen der Schwulen-Gemeinde in den Schatten gestellt. Und sogar in der Apotheke um die Ecke schweben Luftballons in deutschen Nationalfarben über Pastillen gegen Sodbrennen und Tuben mit Schmerzgel. Deutschland hat Nachholbedarf.

Wie oft haben sich die Engländer am letzten Abend der „Night of the Proms“ in der Royal Albert Hall den Union Jack auf die Wangen gemalt, ohne dass irgendjemand etwas dabei gefunden hätte? Während des Irakkriegs war es in London kaum möglich, Blumen zu kaufen, ohne dass der Verkäufer einem ein Fähnchen in den Strauß steckte. Alles, was für uns andere Europäer mit – natürlich! – blütenweißer Vergangenheit als normal und sympathisch galt, war den Deutschen untersagt.

Nur noch die weisen Margeriten auf meinem Balkon widerstehen dem Trikolorentaumel. Aber gestern machte auch ich mich auf die Suche nach zwei Flaggen: einer französischen und einer deutschen. Die französische war leicht zu finden. Seit Zidane aus dem Olymp gefallen ist, ist das Banner meines Landes nicht mehr sehr gefragt. Um seine überzähligen Vorräte los zu werden, räumte mir der Händler sogar einen Rabatt ein. Die Deutschlandfahne dagegen ist ausverkauft. „Es muss eine echte Flagge sein, groß und aus Stoff und stabil!“, forderten meine Kinder. Sie wollen Klinsi und seine Jungs nicht der Lächerlichkeit preisgeben – was man ihrer Meinung nach täte, wenn man am Balkon einen fitzeligen Lumpen aus zweifelhaftem Material pendeln ließe, der sich beim geringsten Windstoß auflöst.

Am Ende des Vormittags hatte ich das Objekt der Begierde immer noch nicht aufgetrieben. Lauter „neue Patrioten“ waren mir zuvorgekommen. Der Notstand ist immens. Ich werde improvisieren müssen, wie einst meine Urgroßmutter Augustine. Im Hinterhof ihres Hauses tunkte sie Leinentücher in große Wannen voller Indigo. Das war im November 1918, als das Elsass gerade wieder französisch geworden war und man mit Trikoloren die Balkone schmückte. Und weil es an Blau fehlte, opferte meine Urgroßmutter ihre Mitgift, um ihre Liebe zur wiederentdeckten „patrie éternelle“ unter Beweis zu stellen. Augustine schwenkte ihr neues Banner, während General Messimy zu Pferd durch die Straßen der kleinen Stadt ritt, die vom „deutschen Joch“ befreit worden war. Mata Hari brüstete sich einst damit, nacheinander den Kronprinzen in Berlin und den Kriegsminister Messimy in Paris in den Armen gehalten zu haben. Die Femme Fatale der Spionagewelt hatte es nicht so mit dem Patriotismus.

Gestern Abend fand ich dann kurz vor Ladenschluss doch noch eine deutsche Flagge. Ein kleines heroisches Rechteck, das auf einem schmalen Baguette klebte. Ich wollte das Dach meines Autos damit verzieren. Aber die Kleinen, die ihre Mutter wohl gerne am Steuer eines blutroten Maserati sähen, waren entsetzt: „Deine alte Karre verdient überhaupt keine deutsche Flagge!“ Ich ziehe den Hut vor dem entkrampften Patriotismus der jungen deutschen Generation! Und frage lieber gar nicht erst, ob mein alter rostiger Golf es wert wäre, französische Farben zu tragen.

Aus dem Französischen übersetzt von Jens Mühling.

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