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Abgestellt, ruhiggestellt und vergessen.

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Alte Menschen: Der Skandal am Lebensende

Der Papst hat es zum Thema gemacht: die Vernachlässigung alter Menschen. Wird man einmal von einem Verbrechen an den Alten sprechen? Ein Kommentar

Ein Kommentar von Juliane Schäuble

Vielleicht kommt der Tag, an dem eine neue Generation ihre Eltern zur Rede stellt. Sie ins Kreuzverhör nimmt, warum sie ihre eigenen Eltern so behandelt haben, wie sie es getan haben. Warum so viele alte Menschen in erbärmlichen Zuständen dahinvegetieren mussten, ruhiggestellt mit Medikamenten, festgebunden an ihr Pflegebett oder den Rollstuhl. Alleingelassen von ihren Verwandten, und manchmal auch vergessen von allen anderen. Vielleicht wird diese neue Generation von einem Verbrechen sprechen, einem großen, unverzeihlichen Verbrechen an den Alten. Eines, das man hätte sehen und vermeiden können.

Der Papst hat das bereits getan. Er hat – mal wieder – den Finger in eine offene Wunde gelegt. Franziskus hat die Vernachlässigung alter Menschen als "heimliche Euthanasie" gegeißelt, hat von einer "Kultur der Entsorgung" gesprochen, die heutzutage herrsche, die Alte ebenso wie arbeitslose Jugendliche und Kinder ausgrenze. Und er hat dringend ein "neues fruchtbares Gleichgewicht" zwischen den Generationen angemahnt, um eine "schwerwiegende geistige Verarmung" der Gesellschaft zu vermeiden.

Es sind starke, erschütternde Worte, die der Papst da wählt, sie sollen aufrütteln, etwas ändern an einem Zustand, der zu häufig einfach nur hingenommen wird. Sie stellen eine Haltung infrage, die zu selten ernsthaft angezweifelt wird.

Eine Gesellschaft, die an ihren Großeltern spart, ist eine herzlose Gesellschaft

Gründe gibt es viele, warum alte Menschen vernachlässigt werden: Bequemlichkeit, mangelnde Zeit der so viel beschäftigten Angehörigen, ein zerrüttetes Verhältnis zwischen den Generationen, Krankheiten, gerade psychische wie Demenz oder Alzheimer, die das Zusammensein mit den Betroffenen schwierig und häufig auch schmerzhaft werden lassen. Manche Ältere haben auch keine Verwandten mehr – oder keine, die in der Nähe wohnen.

Dazu kommt die Personalausstattung in den Heimen, das Ansehen und die Überforderung des Pflegepersonals, die Kosten, die immer weiter ansteigen und irgendwie gebremst werden sollen. Und, und, und.

Und dennoch: Die Mahnungen des Papstes sollten nicht einfach verhallen. Eine Gesellschaft, die an ihren Großeltern spart, der die eigenen Alten lästig sind, ist eine herzlose Gesellschaft. Und eine ärmere. Eine, die ihr Erbe vernachlässigt.

Alte Menschen können und wollen eingebunden sein, wollen "am Leben" teilhaben oder wenigstens davon erzählt bekommen – und selbst von ihrem erzählen. Und die, die nicht mehr ansprechbar sind, haben es dennoch verdient, dass jemand Zeit mit ihnen verbringt.

Das Argument Zeit ist ein gewichtiges. Darauf zielen Anreize wie das neue Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf, das Familienministerin Manuela Schwesig für Anfang nächsten Jahres plant. Damit soll es nahen Angehörigen ermöglicht werden, eine bestimmte Zeit beruflich langsamer zu treten, oder sich ganz von ihrer Arbeit freistellen zu lassen.

Mehr als 2,5 Millionen Pflegebedürftige gibt es in Deutschland bereits - Tendenz steigend

Ja, das wird Kosten verursachen, je nachdem, wie stark die Nachfrage ist, vielleicht sogar ganz erhebliche. Die Arbeitgeber haben sich daher schon kritisch zu Wort gemeldet, sie fürchten die Belastung.

Doch angesichts der stetig steigenden Zahl von Pflegebedürftigen – heute sind es bereits mehr als zweieinhalb Millionen Menschen –, ist der Handlungsbedarf riesig. Und er wächst. Bereits ein Drittel der Pflegepatienten wird in Heimen versorgt, wer Verwandte dort untergebracht hat, weiß, dass das teuer ist. Teuer auch für die Solidargemeinschaft.

"Günstiger" ist die Betreuung zu Hause, so es denn möglich ist. Und im Zweifel ist sie auch liebevoller, sie sollte es zumindest sein, wenn Familie noch etwas wert ist.

Jeder, der einen Teil seines Lebens der Pflege seiner Angehörigen widmen will, sollte dazu befähigt werden. Umfragen zufolge hält die Hälfte aller Berufstätigen das für eine gute Idee. Selbst wenn nur ein Teil dieser Menschen ernst macht, ist das eine gute Nachricht. Für die Ministerin, die jede Unterstützung für ihre politisch umstrittenen Pläne gut gebrauchen kann. Für die Gesellschaft, die Menschen braucht, die Verantwortung übernehmen. Für die Alten, die in ihrer gewohnten Umgebung bleiben und von vertrauten Menschen betreut werden könnten. Aber auch für die Jüngeren, die auf einen grundlegenden Wandel der Einstellungen hoffen dürfen, von dem sie selbst eines Tages profitieren könnten. Denn ohne die Angehörigen wird es nicht gehen.

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