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Meinung: Alter Hass in neuen Kleidern

60 Jahre nach dem Holocaust ist Antisemitismus in Europa virulent. Die muslimischen Zuwanderer sind nur ein Teil des Problems

Im Frühjahr 2002 erlebte Westeuropa eine antisemitische Welle, parallel zur Eskalation im Nahostkonflikt. Seither macht das Schlagwort „neuer Antisemitismus“ oder „nouvelle Judeophobie planitaire“ die Runde – 60 Jahre nach der Befreiung des Lagers Auschwitz, das zum Synonym für den Judenmord der Nazis wurde. Auf großen internationalen Konferenzen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und der Vereinten Nationen sowie im jüngsten „Report on Global Anti- Semitism“ der US-Regierung wird auf ein gefährliches Anwachsen judenfeindlicher Übergriffe und eine zunehmende Verunsicherung der jüdischen Gemeinden hingewiesen.

Es gibt jedoch ernst zu nehmende Kritiker dieser Haltung. Sie meinen, die These vom wachsenden Antisemitismus gehe von der falschen Prämisse aus, in Europas Nachkriegsgeschichte sei der Antisemitismus bis vor kurzem weitgehend verschwunden gewesen.

Hat sich die Zahl antijüdischer Übergriffe tatsächlich dauerhaft erhöht, breiten sich antisemitische Vorurteile in der Bevölkerung aus, treten entsprechende Aussagen in Medien und Öffentlichkeit häufiger auf? Gesicherte Aussagen sind nur schwer zu treffen, in den meisten Ländern fehlen langfristige, gesicherte Beobachtungen. Deshalb konzentriert sich die OSZE auf die Entwicklung eines Instrumentariums, mit dem verlässliche und vergleichbare Informationen über die Verbreitung des Antisemitismus gewonnen werden können.

Ein allgemeines Anwachsen des Antisemitismus in Europa oder gar weltweit lässt sich schwer nachweisen. Es gibt aber Indizien dafür. Das Schlagwort des „neuen, globalen Antisemitismus“ fasst mehrere Veränderungen begrifflich: Sie bestehen weniger darin, dass sich eine bisher nicht gekannte Form des Antisemitismus mit gänzlich neuen Trägerschichten entwickelt hätte, als vielmehr in der gleichzeitigen Präsenz, Virulenz und Vermischung vorhandener Ausprägungen, die durch den Nahostkonflikt mobilisiert werden. Er scheint nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes immer stärker zum Symbol der Zweiteilung der Welt zu werden. An ihn lassen sich zum Teil alte Feindbilder und Schuldzuschreibungen anbinden. So ist etwa die Entwicklung einer radikalen antijüdischen Haltung in der arabischen Welt spätestens seit den 70er Jahren beobachtet worden. Und Jehuda Bauer, der berühmte Holocaust-Forscher in Yad Vashem, warnte auf einer Tagung des Zentrums für Antisemitismusforschung bereits 1992 vor dieser neuen, vom islamistischen Fundamentalismus ausgehenden Gefahr.

Die Öffentlichkeit zeigte sich jedoch 2002 überrascht, dass sich diese Haltung auch im Milieu arabisch-muslimischer Zuwanderer findet und sich immer häufiger in verbalen Angriffen und tätlichen Übergriffen auf Juden äußert. In Frankreich, wo es vor allem in den Schulen zu gravierenden Vorfällen gekommen ist, befasst man sich bereits seit einigen Jahren intensiv damit. In Deutschland wissen wir darüber wenig, doch beginnt man sich in der Wissenschaft, den Schulen und lokalen Initiativen diesem Problem zu stellen. Lange Zeit war dieses neue Potenzial für Judenfeindschaft unterschätzt worden. Man muss sich aber davor hüten, das Problem allein auf die muslimischen Zuwanderer zu projizieren.

Denn auch eine zweite, wieder stärker hervortretende Spielart ist nicht neu: der linke, antizionistisch und antiimperialistisch argumentierende Antisemitismus. Wir kennen ihn mindestens seit dem Sechs-Tage-Krieg von 1967, als Teile der radikalen Linken in Westeuropa sowie die kommunistischen Staaten ihn für ihren „antiimperialistischen Kampf“ ideologisch nutzten. Auch dieser linke Antisemitismus hat sich durch die Konflikte im Nahen Osten (Golfkrieg, zweite Intifada, Irakkrieg) revitalisiert; zudem ist die traditionell enge Verknüpfung mit anti- amerikanischen, wesentlich antikapitalistischen Ressentiments zu finden, für die Israel als „Handlanger des US-Imperialismus“ gilt.

Entsprechend scheint der militante Islam für Linksextremisten in seinem „Kampf gegen den westlichen Imperialismus und sein Werkzeug im Mittleren Osten, den Zionismus“, richtig zu liegen. Er wird als Verbündeter gegen den gemeinsamen Feind eingestuft; zusätzlich wirft man Israel eine rassistische oder gar genozidale Politik vor.

Früher gingen Antirassismus und Anti-Antisemitismus Hand in Hand. Diese Verbindung scheint sich aufzulösen, antirassistische Gruppen übernehmen in ihrer Kritik am „Zionismus“ als dem „Weltfeind Nr. 1“ antisemitische Positionen wie auf der UN-World Conference on Racism 2001 in Durban. Diese „neue Judeophobie“, die auf der Vorstellung basiert, die Probleme der Welt beruhten allein auf der Existenz Israels und die Juden seien selbst Rassisten, wurde zuerst von radikal islamistischen Aktivisten, den „Erben des Dritte- Welt-Mondialismus“ und von weit links stehenden Globalisierungskritikern aufgebracht.

In der globalisierungskritischen Bewegung und der linksextremen Szene sind diese Positionen nicht unwidersprochen geblieben, sie haben zu Auseinandersetzungen und Spaltungen geführt. Die so genannten Antideutschen stellen sich dezidiert auf die Seite Israels und kritisieren die Palästinenser als „aggressives antisemitisches Kollektiv“.

Zwar bietet der Nahostkonflikt auch dem nach wie vor aktivsten antisemitischen Lager, dem Rechtsextremismus, ein willkommenes Agitationsfeld zur Diffamierung des Zionismus und zur Verherrlichung des palästinensischen „Befreiungsnationalismus“. In ihm will man einen Verbündeten gegen den „judeo-amerikanischen Weltherrschaftsapparat mit seiner stets gut geölten Völkermordmaschine“ erkennen. Vorrangig jedoch dient das verschwörungstheoretische Potenzial des Antisemitismus zur Erklärung einer Vielzahl anderer „nationaler Probleme“: der „Knechtung des deutschen Volkes“, der Arbeitslosigkeit (Hartz IV), der Globalisierung. Der Generalschlüssel für die Erklärung all dieser Erscheinungen ist die Annahme, die Juden kontrollierten mittels Finanz- und Medienmacht das Weltgeschehen und übten mit der „Auschwitz- Lüge“ moralischen Druck auf die deutsche und auf europäische Regierungen aus, um diese zur Unterstützung der israelischen Politik, zu Wiedergutmachungszahlungen etc. zu zwingen. Auch die Globalisierung wird auf „Interessen einer zionistischen Oligarchie“ zurückgeführt, wobei es im Übrigen durchaus Anknüpfungspunkte zu Gruppen aus dem linksextremen, globalisierungskritischen Umfeld gibt.

In Deutschland überlagern sich zwei Kontexte: Der „sekundäre Antisemitismus“, der sich aus den Problemen der Vergangenheitsbewältigung speist und sich vom Walser- Bubis-Streit über die Zwangsarbeiterentschädigung bis zum Fall Hohmann manifestiert, vermengt sich mit Israelkritik (Fall Möllemann). Antisemitische Ressentiments sind nicht auf die bisher angeführten Gruppen begrenzt, auch wenn sie sich dort am militantesten äußern. Sondern sie reichen bis „in die Mitte der Gesellschaft“ hinein.

Nachdem über Jahrzehnte ein Rückgang des Anteils antisemitischer Vorurteile in der Bevölkerung zu verzeichnen war, lassen sich seit etwa zehn Jahren konstant bei 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung antisemitische Einstellungen erkennen, wobei sich unter Ostdeutschen ein negativer Einstellungswandel zeigt; die nach der Wende bestehenden Unterschiede nivellieren sich. Zwar gehen antisemitische Einstellungen nach wie vor mit einer nationalistischen, politisch rechten Gesinnung, mit geringer Bildung und höherem Alter zusammen, doch stimmten 2004 mehr als 70 Prozent der Deutschen der Aussage zu, sie ärgerten sich darüber, wenn Juden den Deutschen heute noch die NS-Verbrechen vorhalten. Dies ist natürlich noch kein Beleg für eine antisemitische Motivation, doch ist dieser Ärger eng verknüpft mit dem Verdacht, „die Juden nutzen die Erinnerung an den Holocaust heute für ihren eigenen Vorteil aus“ – dieser Aussage stimmten 2002 54 Prozent der Westdeutschen und 45 Prozent der Ostdeutschen zu.

Öffentliche Konflikte wie um Martin Walsers Rede, in der er beklagte, Auschwitz würde als „Moralkeule“ benutzt, oder um die Entschädigung der NS-Zwangsarbeiter, hinter der man die Geldgier amerikanisch-jüdischer Anwälte vermutet, belegen die nach wie vor starke Präsenz eines vergangenheitsbezogenen, „sekundären“ Antisemitismus. Wer ihn öffentlich äußert, muss aber nach wie vor mit Kritik und Skandalisierung rechnen, wenn nicht gar, wie im Fall rechtsextremer Propaganda, mit Strafverfolgung. Für den Kontext des Nahostkonflikts gilt das nicht in gleichem Maße. Hier finden wir bis in die Massenmedien und den politischen Mainstream hinein Bemerkungen, die Israel als Projektionsschirm für verdeckte antisemitische Ressentiments benutzen.

Wie Medienanalysen zeigen, erschienen im Zuge der Eskalation des Nahostkonflikts antiisraelische und zuweilen auch antisemitische Textpassagen selbst in großen deutschen Tageszeitungen. In abgeschwächter Form finden sich zahlreiche Belege für verschwörungstheoretische Argumentationen in Bezug auf Israels Pläne im Nahen Osten sowie Tendenzen, Israels Politik durch die Wortwahl, wie „Ghettoisierung“, „Deportation“, „Massenvertreibung“, „totaler Krieg“ oder „Vernichtungswut der Besatzungsmacht“ analog zur Judenpolitik des Nationalsozialismus zu setzen. In der öffentlichen Berichterstattung ist eine Neigung zur Dramatisierung unverkennbar, etwa in dem Vorwurf, die Juden würden nicht nur den Nahen Osten, sondern die „ganze Welt ins Unheil stürzen“, eine Variation des alten antisemitischen Satzes „Die Juden sind unser Unglück“.

Für die Wirksamkeit und Legitimität antisemitischer Kommunikation ist mit entscheidend, ob ihr offen und nachdrücklich widersprochen wird. Hier scheint sich ein Wandel im Meinungsklima anzubahnen, wie Juden in Deutschland beklagen. Antisemitische Äußerungen, etwa von Bundestagsabgeordneten, sind bei vielen Parteifreunden und anderen Bürgern auf positive Resonanz gestoßen, und auch bei antisemitisch konnotierten Äußerungen zu Israels Politik ist die Toleranz groß.

Es ist sicherlich kein Zufall, dass in der letzten Zeit auch im Fall eindeutig antisemitischer Aussagen stets von „Antisemitismus-Vorwürfen“ gesprochen und eine Diskussion über Definitionen von Antisemitismus verlangt wird. Dies kann man als Indiz für die schwindende Bereitschaft werten, Antisemitismus auch als solchen zu benennen und zu skandalisieren. Die OSZE-Bemühungen zur Bekämpfung des Antisemitismus werden dem hoffentlich entgegenwirken.

Im „neuen Antisemitismus“ begegnen uns letztlich bekannte Formen der Judenfeindschaft, die in neuen Verkleidungen auftreten. Neu ist die Fokussierung auf den Nahostkonflikt, der ihnen Dynamik verleiht und neue Allianzen ermöglicht. Allerdings übersieht man in der Redewendung vom europäischen Antisemitismus, dass nach wie vor nationale Traditionen seine Form bestimmen. So spielt etwa für die ehemaligen Ostblockstaaten der Nahostkonflikt eine Nebenrolle. Stattdessen geht es um Probleme der Aufarbeitung der eigenen Geschichte während des Zweiten Weltkriegs (etwa die Beteiligung an der Judenverfolgung) und in der kommunistischen Ära. In ihr machte man die Juden für die kommunistische Herrschaft verantwortlich (Judeo-Kommunismus); solche Schuldprojektionen bilden zentrale Motive für antijüdische Einstellungen.

Die harsche Reaktion des Vizevorsitzenden des Zentralrates der Juden, Salomon Korn, auf die Rede der früheren lettischen Außenministerin Sandra Kalniete auf der Leipziger Buchmesse 2004 weist auf die west-östlichen Differenzen in der Wahrnehmung des Holocaust und auf jeweils spezifische Ursachen des Antisemitismus hin. Sie hatte den Nationalsozialismus und Kommunismus als „gleichermaßen verbrecherisch“ bezeichnet.

Eine Europäisierung lässt sich allerdings in der Bekämpfung des Antisemitismus und der Erinnerung an den Holocaust erkennen. Viele europäische Länder haben Holocaust-Gedenktage eingeführt und die Auschwitz-Leugnung unter Strafe gestellt. 1998 wurde auf Initiative des schwedischen Ministerpräsidenten Göran Persson die „Arbeitsgruppe für Internationale Zusammenarbeit im Bereich des Holocaust: Bildung, Gedenken und Forschung“ gegründet, der sowohl Vertreter von Regierungen als auch von staatlichen und nicht- staatlichen Organisationen angehören. Diese „Task Force for Holocaust Education“ sowie OSZE- und EU-Institutionen erarbeiten Konzepte zur rechtlichen wie pädagogischen Bekämpfung von Intoleranz in allen ihren Formen.

Werner Bergmann

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