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Meinung: Alter macht reich

Das Leben jenseits der 60 ist eine Ressource

Von Gesine Schwan

Im Ausland gilt Deutschland als der kranke Mann Europas. In einer gemeinsamen Reihe von Tagespiegel und DeutschlandRadio Berlin suchen prominente Autorinnen und Autoren nach Wegen aus der Krise.

Drei Tage vor meinem 50.Geburtstag fragte mich einer meiner Neffen nur halb im Scherz: „Na, fühlst du dich jetzt richtig alt?“ „Ich fühle mich nicht alt“, war meine Antwort, und dachte gleichzeitig: „Aber 60 wird dann wahrscheinlich doch eine Schallgrenze sein!“

Jetzt bin ich einundsechzig und spüre vom Alter nichts. Ich lebe mit dem Empfinden, noch viel sinnvolle Zukunft vor mir zu haben – beruflich und privat. Wie lange dieses „viel“ noch dauern wird, ob zehn, 20 oder 30 Jahre – es kümmert mich nicht. Natürlich wünsche ich mir eine möglichst lange Zeit, in der ich gesund und aktiv Dinge vorantreiben kann.

Ich bin, so scheint mir, keinesfalls ein Sonderfall. Für immer mehr Menschen gilt, dass das Leben jenseits der 60 eines mit Zukunft ist. Um mich herum leben viele Menschen, die sich nach einer langen Karriere ehrenamtlich engagieren, weiter aktiv bleiben.

Die Ergebnisse der Altenforschung bestätigen meine Beobachtung: Die Vitalität verlässt Menschen heute viel später als in früheren Generationen. Man denke nur an das berühmte Bild, das Albrecht Dürer von seiner Mutter gemalt hat, und vergleiche diese mit heutigen Frauen. Dürers faltenreiche, steinalt wirkende Mutter war 63 Jahre alt, als ihr Sohn sie malte.

Angesichts der gängigen Klagen über die alternde Gesellschaft ist dies eine gute Nachricht: Das Alter ist nicht einfach gleichzusetzen mit Plage und Pflege. Intelligenz, auch Kreativität sind nicht länger Privilegien der Jugend. Mit Ende 20 verfügt man wohl über eine erhebliche intellektuelle Beweglichkeit, doch die zunehmende Lebens- und Berufserfahrung kommt erst mit fortschreitendem Alter – eine wertvolle geistige Ressource, welche die Wirtschaft bisher weitgehend ignoriert hat. Sehr zu ihrem Nachteil übrigens. Die Tatsache, dass wir alle älter werden und dabei leistungsfähiger bleiben, bietet nämlich erhebliche Chancen.

Deutschland hat die niedrigste Geburtenrate der Welt. 45 Prozent der akademisch gebildeten Frauen bekommen keine Kinder. Die meisten hätten gern welche, sehen aber keine Möglichkeit, Beruf und Familie auf einen Nenner zu bringen. Dafür brauchen wir mehr und bessere außerfamiliäre Betreuungsangebote. Doch auch die Eltern sollen ausreichend Zeit für ihre Kinder haben. Das kann nur gelingen, wenn die intensivste Zeit der Familie und die Höhepunkte der beruflichen Karriere zeitlich auseinandergezogen werden. Wenn alles im Leben zwischen 25 und 45 geschehen muss, werden bald 60 Prozent der akademisch Gebildeten keine Kinder mehr bekommen.

Da wir alle älter werden und dabei leistungsfähig bleiben, spricht alles dafür, den Karrieredruck abzuschütteln und das Berufsleben über die 60, ja bis zu 70 Jahren hinaus auszudehnen. Wir könnten langsamer und organischer Verantwortung übernehmen und sie auch wieder in Stufen abbauen.

Wenn es gelingt, den Familien eine Chance zu eröffnen, dann bietet dies zugleich dem Leben jenseits der 60 eine reichere Zukunft. Die berufliche Beschäftigung füllt uns länger aus, und soziale Bindungen veröden nicht so schnell, weil man in eine familiäre Abfolge eingebettet ist. Gleichzeitig bieten ältere Menschen, die sich die Lebensneugier bewahrt haben, den nachwachsenden Jüngeren einen Reichtum an Erfahrung und Ratschlägen. Und sie lernen von den Jungen, wie sich die Welt verändert, welche neuen Gesichtspunkte man berücksichtigen muss, wenn man sich ein haltbares Urteil bilden will. So wächst eine neue Art des gegenseitigen Respekts und der Dankbarkeit, dem Respekt vergleichbar, den die Antike den Alten zollte, aber nun eher dialogisch und in gegenseitiger Neugier.

Seit Jahren pflegt meine Familie ein wöchentliches Sonntags- Abendessen. Wir freuen uns alle darauf, kochen abwechselnd, berichten uns gegenseitig von den Erlebnissen der Woche und diskutieren über kontroverse Themen. Was gibt es Schöneres, als ein Gespräch zwischen Jungen und vermeintlich Alten bei einem Glas Rotwein ausklingen zu lassen?

Die Autorin ist Präsidentin der Europa-Universität Viadrina. Zu hören ist dieser Beitrag am Sonntag um 12 Uhr 10 auf UKW 89,6.

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