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Meinung: Am Ufer des Harems

Pascale Hugues, Le Point

Einst war der Frühling eine naive, verspielte Jahreszeit. Er gehörte den Verliebten, den Blümelein und den Vögelchen. Das war einmal. Rund um den Schlachtensee animieren die ersten Temperaturschübe heute nicht mehr die Vögel zum Singen, Springen und Scherzen, sondern Bataillone von Joggern zum Keuchen, Spucken und Ächzen.

Die Morgenstunden gehören den Zehlendorfer Damen. Die Kinder sind in der Schule, die Ehemänner schuften im Büro. Der See ist noch kalt und finster, der Himmel leuchtet in zarten Mauve-Tönen. Die Zehlendorferinnen joggen paarweise nebeneinander her, in der gleichen Anordnung wie die Perlenstecker in ihren Ohrläppchen. Sie kultivieren einen lasziven Trott, der eher nach mediterraner Passeggiata aussieht als nach Nordic Walking. An ihren Gürteln baumeln Mineralwasserflaschen. Nach dem Parcours belohnen sie sich mit Cappuccino auf der Terrasse der Fischerhütten.

Das wahre Ziel ihrer morgendlichen Eskapade besteht nicht etwa darin, sich Pobacken aus Stahl für die Bikinisaison anzutrainieren, wie es die Frühlingsausgabe der „Brigitte“ ihnen vorschreibt. Nein, viel essenzieller ist die gründliche Erörterung der drei zentralen Themen des Lebens: Beziehung. Krankheiten. Pisa. Bei ihren kleinen, nachdenklichen Schritten versprühen die Damen vom Schlachtensee sophistische Weisheiten. „Es ist die innere Ausstrahlung, die zählt“, behauptet die eine. „Schein und Sein“, wirft die andere ein. Dann verfallen sie mit Genuss in Tratscherei. Kleine schrille Kiekser hallen zwischen den großen Bäumen wieder: „Neeein! Hat sie gesagt? Wirklich? Unverschämt!“

Der morgendliche Schlachtensee ist für Berlin das, was der Harem für Marrakesch ist: eine Institution der Wärme und Intimität. Ein exklusiv weibliches Universum, das sich selbst genügt.

„Der Schlachtensee“, schreibt der Stadtführer, den ich in Paris gekauft habe, bevor ich zum ersten Mal nach Berlin kam, „ist der ideale Ort für einen Spaziergang oder ein Sonnenbad. Am schönsten ist er zu jener Stunde, in der die Abendsonne auf den erschauernden Blättern der Bäume verglüht.“ Ich entschied, auf die Dämmerung zu warten, um diese noble Erhebung der Seele mitzuerleben, um im Einbruch der Nacht die Lyrik dieser erhabenen Beschreibung wiederzufinden. Doch in den Abendstunden gehört der Schlachtensee den Männern. Schluss mit Poesie! Ein Schub viriler Energie ergießt sich plötzlich aus den Büros an die Ufer des Sees. Aufgeschreckt von diesem plötzlichen Einbruch von Männlichkeit flüchten Amsel, Drossel, Fink und Star auf die obersten Zweige der Bäume. Selbst die Wasser des Sees erschauern.

Mit schweren Körpern joggen einsame Männer die Uferpromenade entlang. Sie schweigen. Es geht sachlich zu. Energisches Tempo, feste Waden, große Schritte. Keuchend wie Walrösser bewegen sie sich fort. Der Bauch wird über dem Elastikband der Shorts getragen, er dient als balancierendes Moment. Saurer Schweiß zeichnet Arabesken auf T-Shirts. Die Gesichter unter den Baseballkappen sind krebsrot. Es ist eine deutlich weniger elegante Welt als die der Morgenstunden. Die Männer spucken und husten und schnäuzen sich die Nase mit dem Handrücken. Ein Rotzfaden landet in einem Busch am Wegesrand. Nichts kann diese Marathonkämpfer aufhalten – um ein Haar rennen sie einen dicken, gutmütigen Hund über den Haufen, der sich sinnlich in der Wegesmitte räkelt. Am Abend wird der Schlachtensee zur stummen, kämpferischen Männerwelt. Ein Universum der Taten und der Muskeln, ein Universum, in dem Angst keinen Platz hat.

Am Schlachtensee erleben Männer und Frauen den Frühling jeder für sich. Mir gehen tausend einfältige Gedichte durch den Kopf, vor meinem inneren Auge tun sich Margariten auf , die als Liebespropheten abgepflückt werden, ich sehe süße Briefe, die unter Türen durchgeschoben werden, Veilchen, grüne Heide, Kuckucksrufe und blättersatte Birken. Ich sehe eine träumerisch sprudelnde Welt. Und schäme mich fast ein bisschen dafür, mich von diesen kitschigen Bildern überwältigen zu lassen.

Plötzlich kommt ein reiferes Paar die Uferpromenade entlang geschritten, Hand in Hand, in zivilisiertem Tempo. Im Gang des Mannes liegt das Federn eines Halbstarken, der zum ersten Mal verliebt ist. Seine Frau hängt sich tief in seinen Arm. Er umschlingt ihre Schultern, versucht sie zu küssen. Sie geniert sich ein wenig. Er insistiert. Sie fangen an zu lachen. Sie brauchen weder Laufstöcke noch Baseballkappen noch fluoreszierende Shorts. Und ich bin plötzlich wieder vollkommen beruhigt: Ja, das ist der Frühling. Alle Vögel sind schon da.

Aus dem Französischen übersetzt von Jens Mühling.

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