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Meinung: Amtsantritt: Seine Ohren wachsen schon

Und wenn es doch eine deutsche Leitkultur gäbe? Sagen wir: fünf politische Grundüberzeugungen, die fast jeder Deutsche teilt?

Und wenn es doch eine deutsche Leitkultur gäbe? Sagen wir: fünf politische Grundüberzeugungen, die fast jeder Deutsche teilt? Die sähen ungefähr so aus: Die Todesstrafe ist barbarisch. Den Müll zu trennen und gegen die Klimakatastrophe zu kämpfen, ist wichtig. Neue Waffensysteme setzen automatisch die Rüstungsspirale in Gang. Wo Bürger sich bewaffnen dürfen, werden mehr Verbrechen verübt als in einem Staat, dessen Bürger das nicht dürfen. Jedes Volk hat ein Recht auf Selbstbestimmung und auch ein Recht, sich gegen Unterdrückung zu wehren, notfalls mit Gewalt.

Das Problem ist nur: In Amerika und Israel fühlt sich niemand an diese deutsche Leitkultur gebunden. Von Amerikanern und Israelis prallen solche Sätze ab wie Flummis von einer Betonwand. Amerika und Israel aber sind zwei der für Deutschland wichtigsten Länder, vielleicht sogar die beiden wichtigsten. Und in beiden steht ein Regierungswechsel bevor, der aus dem schwelenden kulturellen Gegensatz einen akuten politisch-kulturellen Konflikt machen könnte: Die deutsche Außenpolitik steht vor ihrer größten Herausforderung seit dem Regierungswechsel und dem Kosovo-Krieg. Und die Alternative, die auf den ohnehin leicht lädierten Außenminister zukommt, versetzt ihn wohl kaum in Partylaune: Entweder wird Berlin am Ende isoliert sein (unwahrscheinlich) oder Joschka Fischer von Hans-Dietrich Genscher nicht mehr zu unterscheiden.

In Texas, wo der neue US-Präsident George W. Bush Gouverneur war, wurden im vergangenen Jahr mehr Menschen hingerichtet, als in allen anderen 49 amerikanischen Bundesstaaten zusammen. Um die Ölindustrie hat sich Bush immer mehr gesorgt, als um das Ozonloch. Recht weit oben auf seiner Agenda steht NMD, das Verteidigungssystem gegen nukleare Raketen. Und am Recht auf Waffenbesitz wird während seiner Amtszeit garantiert nicht gerüttelt.

In Israel steht Ariel Sharon, der "Bulldozer", in den Startlöchern. Wenn nicht noch ein Wunder geschieht, wird der ehemalige Likud-Verteidigungsminister, der 1982 in den Libanon einmarschiert war und mitverantwortlich ist für Massaker an palästinensischen Flüchtlingen, am 6. Februar zum neuen Regierungschef gewählt.

Die künftige US-Administration sowie die wahrscheinlich ebenfalls neue israelische Regierung verstoßen in ihrem Kern gegen elementare deutsche Prinzipien. Ob von links oder rechts: Bush und Sharon werden verachtet, bestenfalls belächelt. Sie stehen für Werte, die in Deutschland verpönt sind. Die Geister des Anti-Amerikanismus und Anti-Israelismus waren in Deutschland in den letzten acht Jahren dank Clinton und dem Nahost-Friedensprozess gebannt. In Zukunft könnten sie wiederbelebt werden. Und der Außenminister wird - wie die Macht und die Geschichte nun einmal liegen - die schrillen Töne zurückweisen müssen und selbst nur leise Töne vorbringen können.

Denn zu einer offenen Konfrontation darf die Entfremdung nicht führen. Nicht mit Amerika, nicht mit Israel. Das hat Fischer auf seinem langen Weg durch die Frustrationen gelernt. Und Europa? Kann sich Berlin nicht einfach - wie immer, wenn es schwierig wird - auf "gemeinsame europäische Positionen" zurückziehen? Die Versuchung ist groß, aber ihr nachzugeben, wäre naiv. Noch ist Europa nicht so weit, dass es die Welt darüber hinwegtäuschen könnte, dass einige wenige Staaten das Sagen haben.

Nein, für den deutschen Außenminister bleibt die Lage misslich. Trösten dürfte ihn nur eines: In wenigen Jahren, wenn Fischer wirklich Genscher geworden ist, wird ihm das keiner in seiner Partei mehr übel nehmen.

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