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Blut auf dem Christusbild: Das Porträt aus der Kirche mit den Spuren des Anschlags wurde zur Ikone der Trauer und des Protestes.

© AFP

Analyse: Der Anschlag von Alexandria - eine ganz neue Dimension

Im Visier der islamistischen Gotteskrieger: Unser Nahost-Korrespondent Martin Gehlen analysiert die Lage der acht Millionen Christen in Ägypten - in einem Jahr mit höchster politischer Brisanz für das ächzende Land.

Das neue Jahr war gerade dreißig Minuten alt, als der koptischen Kirche bereits die Stunde schlug. Wenige Tage vor dem orthodoxen Weihnachten am 6. Januar machte die Terrororganisation Al Qaida aus ihren Drohungen blutigen Ernst - mit einer Horrortat, wie es sie in der jüngeren Geschichte Ägyptens noch nicht gegeben hat. 21 Menschen, die gerade aus der Mitternachtsmesse kamen, riss ein Selbstmordattentäter mit in den Tod. Dutzende Schwerverletzte werden für ihr Leben gezeichnet bleiben.

Nach den Gläubigen im Zweistromland Irak steht nun auch die Jahrtausende alte orthodoxe Kirche entlang des Nils im Visier der selbsternannten Gotteskrieger. Mit ihren Verbrechen im Namen Allahs wollen sie vorhandene Spannungen zwischen den religiösen Volksgruppen anheizen, um diese in einen offenen Kampf gegeneinander zu treiben und ihre Staaten bis ins Mark zu erschüttern.

In Ägypten könnte diese zynische Rechnung schon bald aufgehen, sollten etwa am kommenden Heiligen Abend auch noch Schüsse auf Weihnachtsgemeinden fallen. Ohne Zweifel, die Reibereien zwischen Muslimen und Christen in Ägypten haben in den letzten Jahren spürbar zugenommen. Beide Seiten werden immer reizbarer. Noch vor kurzem völlig undenkbar: Inzwischen skandieren Muslime regelmäßig nach Freitagsgebeten anti-christliche Parolen. Selbst in der großen Moschee neben der Kairoer Markus-Kathedrale des koptischen Papstes gehört diese aggressive Praxis inzwischen zum wöchentlichen Ritual.

Und so fühlen sich die Christen als religiöse Minderheit zunehmend bedrängt und im Staat als Bürger zweiter Klasse behandelt - von den Behörden diskriminiert sowie bei der Besetzung führender Ämter in Politik, Wissenschaft und Verwaltung übergangen. Bei der Genehmigung von neuen Kirchenbauten gibt es immer wieder Krach, wie zuletzt in Kairo, als bei Straßenschlachten mit der Polizei zwei Demonstranten durch Kugeln der Ordnungshüter starben. Wer in Ägypten eine Kirche plant, hat bürokratische Geisterbahnen zu meistern. Moscheen dagegen gibt es mit 93.000 mehr als genug, während die Zahl der Kirchen bei etwa 2000 stagniert. Umgekehrt beklagen aufgeklärte Kopten aber auch Bunkermentalität, Dogmatismus und geistige Militanz in den eigene Reihen, die sich unter dem 39-jährigen Pontifikat des greisen Oberhauptes Shenouda III. breit gemacht haben.

Und dennoch: Was sich jetzt in Alexandria zugetragen hat, hat eine ganz neue Dimension. Das Attentat trägt die Handschrift von Al Qaida, deren geistige Sympathisanten in der Vier-Millionen-Hafenmetropole am Mittelmeer mehr und mehr Zulauf finden. Staatschef Hosni Mubarak jedenfalls scheint zu ahnen, was seiner Heimat blühen könnte. In seiner Fernsehansprache an das Volk räumte er indirekt bereits ein, dass nach der Terrorserie der neunziger Jahre, die mit dem Massaker an Touristen am Hatshepsut-Tempel in Luxor seinen Höhepunkt fand und Ägypten an den Rand eines inneren Kollapses bugsierte, demnächst vielleicht eine neue Terrorwelle auf das Land zurollt.

Und das ausgerechnet 2011, seit drei Dekaden das Jahr mit der politisch höchsten Brisanz für das ächzende Land mit seinen 80 Millionen Einwohnern. Im September soll der Nachfolger des 82-jährigen Staatschefs gekürt werden, der eine Generation lang alle Fäden in der Hand hielt. Ein klarer politischer Erbe ist nicht in Sicht. Stattdessen ringen die alte Garde von Militär- und Sicherheitsapparat sowie die neue Garde der Wirtschaftsreformer immer verbissener miteinander. Schlimmer noch: Dem neuen Parlament fehlt wegen der unglaublich dreisten Wahlfälschungen beim Urnengang im November inzwischen jede Legitimität, um glaubwürdig in die taumelnden Geschicke des Landes eingreifen zu können.

Die Muslimbruderschaft als bislang stärkste Oppositionspartei wurde komplett aus der Volksvertretung herausgedrängt. Noch ganze drei Prozent der Mandatsträger gehören künftig nicht zu den parlamentarischen Kohorten des Langzeit-Pharaos. Auch die acht Millionen Kopten sind praktisch nicht mehr repräsentiert. Was als Planierung des politischen Terrains für einen möglichst reibungslosen Thronwechsel am Nil gedacht war, könnte sich schon bald als politischer Bumerang erweisen. Denn die ägyptischen Islamisten werden künftig noch tiefer als bisher in den politischen Untergrund abtauchen. Und der Einfluss des moderaten Flügels wird weiter schwinden. Die blindwütigen Fanatiker an ihren Rändern jedoch könnten dann auf wirklich dumme Gedanken kommen.

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