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Anonymität im Internet. Ein Kulturverfall?

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Diskussionskultur im Internet: Im Reich der namenlos Nackten

Die Transparenzgesellschaft, das Netz und die Demokratie: Durch Anonymität geschützt, kann im Internet jeder alles sagen. Auch Unsinniges, auch Schmähendes. Das ist ein Kulturverfall, meint unser Gastautor Byung-Chul Han. Die Piratenpartei ist letzten Endes eine Partei des zukunftsblinden "Gefällt mir"-Buttons.

Die digitale Vernetzung überzieht die Gesellschaft gleichsam mit einer riesigen kollektiven Netzhaut. Alles wird dadurch der Sichtbarkeit ausgeliefert. Die digitale Vernetzung erzeugt Strukturen, die charakteristisch sind für eine Stammesgesellschaft. Sie bringt eine Transparenzgesellschaft hervor, in der praktisch keine Sehlücke geduldet wird. Jede Seh- und Informationslücke erweckt Misstrauen und Verdacht. Sie muss durch Offenbarung, Geständnis und Enthüllung schleunigst geschlossen werden. Angestrebt wird eine panoptische, lückenlose Sichtbarkeit. Diese Transparenzgesellschaft verwandelt sich notwendig in eine Kontrollgesellschaft, in eine Gesellschaft des Enthüllens und des Entblößens.

Der Ex-Bundespräsident Christian Wulff betonte wiederholt, dass er mit mehr Transparenz das Vertrauen zurückgewinnen wolle, ohne zu begreifen, dass er sich dabei in einen Widerspruch verwickelt. Das Vertrauen ist nur möglich und auch nötig in einem Zustand zwischen Wissen und Nicht-Wissen. Vertrauen heißt, trotz vorhandener Wissenslücke gegenüber dem anderen eine positive Beziehung zu ihm aufzubauen. Die mit einer kollektiven Netzhaut überzogene Transparenzgesellschaft unterscheidet sich grundsätzlich von der Vertrauensgesellschaft. Die Transparenz ist ein Zustand, in dem jede Wissens- und Informationslücke beseitigt ist. Wo die Transparenz herrscht, ist also kein Raum für das Vertrauen vorhanden. Statt „Transparenz schafft Vertrauen“ sollte es eigentlich heißen: „Transparenz schafft Vertrauen ab“.

Mehr Transparenz macht noch mehr Transparenz erforderlich. So nimmt die Forderung nach Transparenz immer radikalere Form an. Das ist der Teufelskreis der Transparenz. An keinem Punkt schlägt sie in Vertrauen um. Das Vertrauen folgt einer ganz anderen Logik. Die Transparenz ist eine Gegenfigur des Vertrauens. Die Forderung nach Transparenz wird gerade da laut, wo es kein Vertrauen mehr gibt. In einer auf Vertrauen beruhenden Gesellschaft entsteht keine penetrante Forderung nach Transparenz. Die Transparenzgesellschaft ist eine Gesellschaft des Misstrauens und des Verdachts, die aufgrund des schwindenden Vertrauens auf Kontrolle setzt.

Die totale Transparenz kann allein durch eine permanente Überwachung und Kontrolle erreicht werden. Die permanente Überwachung beschränkt vor allem die Handlungsfreiheit. Es ist gerade das Vertrauen, das freie Handlungsräume generiert. In seinem Buch „Respekt im Zeitalter der Ungleichheit“ macht der Soziologe Richard Sennett gerade auf diesen sehr wichtigen Sachverhalt aufmerksam: „Die Menschen müssen dem Regierenden vertrauen; mit ihrem Vertrauen gewähren sie ihm eine gewisse Handlungsfreiheit und verzichten auf eine ständige Prüfung und Überwachung. Ohne solche Autonomie könnte er tatsächlich keinen Schritt tun.“

Das Netz ist die mediale Bedingung für die Transparenzgesellschaft. Es ist ein symmetrisches Kommunikationsmedium. Daher ist es sehr schwierig, in ihm asymmetrische Räume oder Strukturen zu etablieren. Die Transparenz ist ein Zustand der Symmetrie. So ist die Transparenzgesellschaft bestrebt, alle asymmetrischen Beziehungen zu beseitigen. Zu ihnen gehört auch die Macht. Daher schafft die Transparenzgesellschaft Machträume ab, indem sie einen symmetrischen Informationsfluss erzwingt. Das Geheimnis, das als Machtmittel eingesetzt werden kann, entsteht gerade durch einen asymmetrischen Informationsfluss. Die symmetrische Informationspolitik erschwert die Bildung der Macht- als Herrschaftsräume.

Die Macht ist aber nicht identisch mit Gewalt, Herrschaft oder Vorteilsnahme. Sie ist an sich weder negativ noch diabolisch. Vielmehr ist sie in vielen Fällen produktiv. Sie bringt einen Freiraum zur politischen Gestaltung hervor. Die Macht ist ein Medium, von dem man Gebrauch macht, um zum Beispiel eine politische Vision zu verwirklichen, ja die Zukunft aktiv zu gestalten und zu verändern. Eine politische Führung im emphatischen Sinne ist allein auf der Grundlage dieses Mediums möglich. In diesem Sinne ist die Macht ein positives Handlungsmedium. Ohne Macht kann man letzten Endes nichts machen und bewirken. Die Piratenpartei betrachtet die Macht problematischerweise ausschließlich unter dem Aspekt ihres Missbrauches.

Bilder: Der Piratenparteitag in Neumünster

Die Transparenz ist kein Zauberwort. Sie kann zwar bestimmte Vorgänge durchsichtig machen, aber die Durchsicht allein erzeugt weder Einsicht noch Hellsicht. Wissen ist nicht gleich Information. Wissen und Einsicht sind nicht abhängig von der Informationsmenge. Das Übermaß an Information kann sogar die Fähigkeit zerstören, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden. Das Denken ist nichts anderes als dieses Unterscheidungsvermögen.

Das höhere Urteilsvermögen verkümmert

Durch die wachsende Informationsmasse verkümmert heute das höhere Urteilsvermögen, zum Beispiel die Intuition. Und mehr Information führt auch nicht notwendig zu besseren Entscheidungen. Die Entscheidung ist an die Fähigkeit der Unterscheidung gebunden. Diese Fähigkeit wird gerade durch die Informationsflut zerstört. Massen an belanglosen Informationen bringen eine tote Transparenz hervor, die die Wahrnehmung vom Wesentlichen ablenkt. Die Transparenz kann einen auch blind machen. Angesichts der Informationsmasse stumpft die kritische Wahrnehmung ab. Es wird bald so sein, dass man in der Transparenz Dinge besser verbergen kann als im Dunkel, dass Missstände gerade im Schutz der Transparenz fortbestehen und gedeihen können.

Die Demokratie ist keine Diktatur der Mehrheit, die Minderheiten unterdrückt. Sie ist eine Kultur des Respektes, in der Minderheiten ihre Stimme erheben und auch gehört werden. Der respektvolle Umgang miteinander ist das Wesen der Demokratie. Heute stellt sich die Frage, ob das Netz ein demokratisches Medium sein kann. Sie ist identisch mit der Frage, ob im Netz ein respektvolles Miteinander möglich ist. Schaut man sich die Diskussionskultur im Netz an, so wird man diese Frage verneinen müssen. Wer heute im Netz eine abweichende Meinung äußert, versinkt schnell im Shitstorm. Andererseits fallen im Netz alle Tabus. Alles kann gesagt und gezeigt werden. Durch Anonymität geschützt äußert man dort auch jede unsinnige Meinung, ja jeden Bullshit. So entstehen im Netz unterschiedliche Arten von Shitstorm. Das ist ein Kulturverfall. Und die totale Beliebigkeit macht Verantwortung und Verbindlichkeit unmöglich, nämlich Werte, die wesentlich sind für die politische Kultur.

Bilder: Eine kleine Geschichte des Shitstorms

Vilém Flusser, der Philosoph des Digitalen, hat einmal gesagt, dass das digitale Erdbeben Häuser durchlöchere und sehr viel Geräusche erzeuge, dass mitten im Geräusch aber kein Wohnen möglich sei. Mitten im Lärm des digitalen Netzes ist auch kein Sprechen möglich. Transparent und durchsichtig sind auch die durchlöcherten Häuser, durch die der lärmende, digitale Wind weht.

Die Transparenz ist kein utopischer Zustand. Der transparente Netzraum ist kein lichter Raum mit eindeutigen Strukturen und Ordnungen. Die Transparenz allein bringt kein Licht ins Dunkel. Sie ist zunächst eine lichtlose Strahlung, die alles unterschiedslos durchsichtig macht. So schafft sie auch keine Orientierung. Transparent wird die Welt auch, wenn alle möglichen Meinungen und Informationen sich unkontrolliert in sie ergießen. Shitstorms gehören wesentlich in den transparent gewordenen Raum. Die Transparenzgesellschaft kann einen sehr hohen Geräuschpegel, ja eine unerträgliche Lautstärke erreichen, die keinen politischen Diskurs mehr zulässt. Wie ließen sich all die unpolitischen Geräusche in einen politischen Diskurs umwandeln?

Im transparenten Raum entwickelt sich auch schleichend ein Zwang zur Gleichheit. Es ist dort sehr schwierig, ein anderer zu sein oder andere, abweichende Meinungen zu entwickeln. In einer Tagebuchnotiz schreibt Ulrich Schacht: „Neues Wort für Gleichschaltung: Transparenz.“ In der Euphorie der Transparenz erkennt man nicht deren totalitäre Züge. Der Berliner Pirat, Christopher Lauer, ahnt sie offenbar, wenn er bemerkt, dass die Transparenz innerparteilich oft als „Kampfbegriff“ diene, „um Ideen und Diskussionen abzuwürgen“. So frage er sich, ob die Politik der Transparenz überhaupt sinnvoll sei.

Die Piraten, eine Partei des "Gefällt mir"-Buttons?

Die Kommunikationsmedien beeinflussen in einem entscheidenden Maße die politischen Organisationsformen und Entscheidungsprozesse. So ist die Parteiendemokratie eng an das Medium Zeitung gebunden. Verlangt nun das Internet, das eine direkte und symmetrische Interaktion, das heißt eine intensivere Form der Partizipation möglich macht, nach einer neuen Politikform und bedroht ernsthaft die repräsentative Demokratie? Ist heute eine tragfähige Alternative für die Parteiendemokratie denkbar? Oder hat das Prinzip der repräsentativen Demokratie Bestand unabhängig vom medialen Paradigmenwechsel? Mit dem Erfolg der Piraten kündigt sich unter anderem eine Krise der repräsentativen Demokratie an. Kommunikationsmedien wie Twitter oder andere soziale Netzwerke sind Präsenz-Medien, denen jede Form der Repräsentanz als störender Umweg erscheint. So wird eine Politik der Präsenz oder eine Echtzeit-Politik gefordert, die wenig Informationsstau und mehr Partizipation erzeugt.

Die neuen Kommunikationsmedien verschärfen aber gleichzeitig Unverbindlichkeit, Beliebigkeit und Kurzfristigkeit. Heute ist es sehr schwierig, Verantwortung zu übernehmen. Verantwortung setzt eine Verbindlichkeit voraus. Sie ist wie Versprechen oder Vertrauen explizit auf die Zukunft gerichtet. Diese Akte binden und stabilisieren die Zukunft. Derzeit ist ein absoluter Vorrang der Gegenwart zu verzeichnen. Die Zeit zerfällt zu bloßer Abfolge der Gegenwart. So fehlt es heute überall an Zeit.

Die Totalisierung der Gegenwart vernichtet die zeitgebenden Handlungen wie Verantworten, Vertrauen oder Versprechen. Die Piratenpartei ist strukturell und medial stärker auf die Gegenwart fixiert als die etablierten Parteien. Sie ist letzten Endes eine Partei des „Gefällt mir“-Buttons, der als Befindlichkeitsanzeiger in gewisser Hinsicht zukunftsblind ist. Er vermag keine Vision hervorzubringen, die der Zukunft gälte. So werden die Piraten viel Mühe haben mit solchen genuin politischen, das heißt auf die Zukunft gerichteten, zeitgebenden Handlungen wie Versprechen, Vertrauen und Verantworten. Sie werden nicht fähig sein, in die Zukunft hineinzuhandeln und hinauszublicken. Demokratie bedeutet aber mehr, ja wesentlich mehr als Partizipation.

Nicht zuletzt aufgrund des systemischen Zwanges gleichen sich heute die etablierten Parteien immer mehr. Keine „Inhalte“ unterscheiden sie voneinander. So sollten sie zunächst über ihre eigene Inhaltslosigkeit nachdenken, bevor sie sie den Piraten vorwerfen. In der Hölle des Gleichen ist die Politik als Wahl, die das Ganze ins Visier nimmt und darüber neu befindet, nicht möglich. An die Stelle der Wahl und Entscheidung im emphatischen Sinne tritt die Auswahl an unterschiedlichen Optionen innerhalb der bereits vorhandenen sozio-ökomonischen Koordinaten, die heute keine Partei ernsthaft infrage stellt. Kein anderes System, keine neue Lebensform steht zur Wahl.

Das ist der Zustand der Post-Politik, die sich in der Verwaltung unterschiedlicher Bedürfnisse und Meinungen erschöpft und womöglich den Beruf des Politikers selbst bald zum Verschwinden bringt. Auch im Netz gibt es keine Möglichkeit der Wahl, sondern nur die Auswahl innerhalb des Gleichen. Der Erfolg der Piratenpartei lässt sich auch darauf zurückführen, dass sie eine Options- und Meinungspartei in unserer postideologischen, postpolitischen Options- und Meinungsgesellschaft ist. Mit dem Programm wie Liquid Democracy passt sie sich dem Zwang zur Optionsmaximierung an.

Politik ist aber mehr als Option und Partizipation. Politik ist ein Zusammenhandeln, dessen Zeithorizont die Zukunft ist. In vieler Hinsicht befinden wir uns an einer epochalen Schwelle, an der sich ernsthaft die Frage stellt, ob die Politik überhaupt noch möglich ist.

Der Autor ist Professor für Philosophie und Medientheorie an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. Sein jüngstes Buch heißt "Transparenzgesellschaft" (Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2012).

Byung-Chul Han

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