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Nach vierjähriger Verhandlungszeit einigen sich EU-Kommission, Europaparlament und Mitgliedsländer auf einen einheitlichen Datenschutz, der die alten Regeln von 1995 ablöst.

© dpa

Estland als Trendsetter Europas: Digitales Staat-up

In Estland ist das Internet nie fern: Das Land ist digitaler Vorreiter in Europa. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Florian Hartleb

Wer den "Spiegel" vom 9. Januar 2016 aufschlug, sah die German Angst bestätigt. "Auf der Kippe ", lautet die Titelgeschichte. Hier dreht sich derzeit alles um die Flüchtlingsthematik. Weiter hinten hingegen geht es jenseits der Grenzdiskussion um Industrie oder Mittelstand 4.0. Deutschland will nun, staatlich subventioniert und etwas verkrampft, die vierte industrielle Revolution ausrufen. Die momentan tolle deutsche Konjunktur wirkt. Da stört ein kleines Land, nämlich Estland, ein nordostmitteleuropäischer Staat mit der Einwohnerzahl von München, 1,3 Millionen, und der Fläche von Niedersachsen. Man denke an ein kleines gallisches Dorf bei Asterix. Der "Spiegel"-Artikel beschreibt das digitale Estland, indem es den Staat von A bis Z aufs Korn nimmt: Sarkasmus pur. Von Staat-up ist die Rede, ebenso im Titel von "Cyblabla in Laptopia". Kein Ausländer will angeblich in dem Land leben.

Saunaaufguss "2048"

Es stimmt, zumindest die Flüchtlinge wollen mehrheitlich nach Deutschland, Schweden oder Österreich, nicht nach Estland, das sie nicht kennen. Dahin kommen bis jetzt weniger, als die Esten selbst aufnehmen wollen. Auch in Deutschland sprechen viele von den Estländern oder von den Balten, schlimmer wäre nur noch: von den Russen. Dabei gibt es neben der Hansestadt Tallinn viel Meer, schöne Inseln, eine traditionelle Universitätsstadt, ein Wintersportgebiet, gepflegte Dörfer und Kleinstädte, viel Natur wie Wald, und vor allem gastfreundliche, patriotisch wie weltoffene Menschen. In Tallinn selbst ist die Hansekultur allgegenwärtig. Ist also die im "Spiegel" beschriebene postsowjetische Tristesse die Wirklichkeit im hohen Norden, ein Marketinggag im Sinne von 1984, also ein Schreckensszenario für Strukturkonservative, Datenschützer und deutsche Großindustrie? Es fehlt nur noch ein Verweis auf das Orwell'sche "1984", im 21. Jahrhundert dann vielleicht treffender und quasi als Saunaaufguss "2048". Unterschwellig klingt durch: Innovation kann nur von der Industrie und von den Konzernen ausgehen, Veränderungskultur allein im Rahmen von analoger Verwaltung und dosiert. Estland, 1991 unabhängig geworden, stellte hingegen schon in den 90er Jahren die Weichen, den Staat mit Digitalisierung zu modernisieren. Seit 2000 hat jeder Bürger einen verfassungsmäßigen Anspruch auf das Internet. Kostenloses W-Lan gibt es fast überall. Praktisch bedeutet das: Auch in der finnischen Sauna auf dem Land ist der Gang ins Internet nicht weit.

Eine Broschüre "Möglichkeiten und Grenzen der digitalen Infrastruktur und Daseinsvorsorge", prominent vorgestellt beim Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur im vergangenen November, kommt zu klaren Befunden. Das dortige Interesse an Digitalisierung ist immens, da der zuständige Minister Alexander Dobrindt unlängst davon sprach, dass es ab der nächsten Legislaturperiode, wohl 2017, ein Digitalisierungsministerium geben soll. Ziel der Politik ist es, die Kompetenzverstrickungen zu entknoten. Über Estland steht in der Auftragsarbeit des Lehrstuhls Regionalentwicklung und Raumordnung der Technischen Universität Kaiserslautern: "Estland ist eines der Länder, in denen die Einführung digitaler Dienstleistungen bereits weit fortgeschritten ist ... Gerade im Bereich der Verwaltung bestehen bereits zahlreiche Nutzungen. Die digitale Agenda 2020 für Estland schreibt als Ziel vor, dass alle Einwohner bis zum Jahr 2020 über schnelles Internet (30 Mbit/s und mehr) verfügen und mind. 60 % der Haushalte täglich ultraschnelles Internet (100 Mbit/s oder schneller) nutzen können". Das Rückgrat dafür bildet die so genannte X-road, ein dezentrales System, das den Datenaustausch zwischen den verschiedenen Datenbanken ermöglicht. Durch die Nähe in Sprache, Kultur und Distanz zu Finnland – Tallinn liegt über den Seeweg 88 km entfernt von Helsinki – wird die Datenautobahn nun zu Finnland ausgebaut beziehungsweise damit verwaltungstechnisch verkoppelt.

"Spiegel online" bezeichnete vor ein paar Monaten das kleine Land noch voller Bewunderung als "Silicon Valley Europas", wegen des ausgeprägten Gründergeists und der Kreativität. Immerhin liegt die geistige Vorbereitung von Skype in Estland, ebenso das Cyber Security Centre der Nato. In der Tat: Der Kulturschock ist riesig für den Besucher, wenn er nach Tallinn reist und Hanse wie High-Tech auf dem Silbertablett serviert bekommt. Deutschland hat ja, abgesehen von SAP, in der IT-Industrie wenig zu melden. Die Sim-Karte als Personalausweis? Schnelles Internet via W-Lan in Cafés, Bars und Restaurants, auch in Zügen und Bussen? Ohne Bargeld zahlen? Steuererklärung per Mausklick? Weltrekord in der Firmengründung mit 18 Minuten und drei Sekunden? Programmierer bereits in der Grundschule? Digitale Krankenakte? Alles kein Problem.

 In Estland bleibt auch der Patient Herr über seine eigenen Informationen

Die Bevölkerung besteht aus E-Gläubigen, ob jung und alt. Jobausschreibungen setzen vertiefte IT-Kenntnisse meist voraus. Wir in Deutschland hingegen glauben ja, dass die ältere Generation abhängt, zum Prekariat 4.0. wird. Die Fakten im finnugrischen Sprachkreis sind anders: 98 Prozent machen die Steuererklärung online, die Generation 60 plus beteiligt sich überdurchschnittlich hoch an den landesweiten Wahlen via Mausklick. Der Innovationsgeist spukt also nicht nur unter den "digital natives", ist dortzulande ein generationenübergreifender Kitt. Während in Deutschland der Start-up-Schwung deutlich nachlässt, bietet Estland eine besonders unkomplizierte und schnelle Infrastruktur. Nicht nur das: Weltbank und Weltwirtschaftsforum stufen Estland regelmäßig als eines der Länder ein, wo sich Geschäfte am einfachsten und effizientesten abwickeln lassen. Die Regierung arbeitet seit Jahren ganz selbstverständlich und unaufgeregt papierlos. Und es funktioniert.   

Ein Cyberangriff aus Russland im Jahr 2007 hat das Land nachhaltig für Risikominimierung und Sicherheit sensibilisiert. Das System ist so angelegt, dass der Bürger jedes Mal, wenn etwa die Polizei auf Daten zugreift, informiert wird. Delikte werden auf der digitalen Autobahn, der X-road, geahndet. In Estland bleibt auch der Patient Herr über seine eigenen Informationen. Arztbesuche, Medikamente und Befunde werden in einer digitalen Patientenakte gespeichert. Ärzte und Kliniken können alle wichtigen Informationen einsehen - aber nur, wenn sie die Erlaubnis des Patienten haben. Rezepte auf Papier gibt es kaum mehr, ebenso wenig lange Wartezeiten. NSA etc. haben gezeigt: Big Data gibt es überall, auch in Deutschland. Und auch im analogen Raum gibt es Missbrauch.

Nun erfolgt ein neuer Coup: Mit der e-Residency-ID-Karte können Ausländer seit Ende 2014 an über die staatlich garantierte digitale Identität verfügen und die zahlreichen E-Government-Leistungen nutzen. Über 7000 e-residents haben sich bereits angemeldet und können damit ein Unternehmen nach estnischen Recht gründen. Sie müssen allein in eine estnische Botschaft gehen, brauchen nicht einmal ins Land zu reisen. Freelancer können dann von einem beliebigen Ort arbeiten. In Deutschland fehlt wohl das Verständnis, dass man das schaffen kann, ganz ohne staatliche Alimente. Kein Wunder, gibt es auch im 2016 immer noch den Solidaritätszuschlag. In ganz Deutschland mangelt es an einer breiten Debatte darüber, wie Digitalisierung den Alltag erleichtern kann, schlicht Zeit spart. Wer die digitale Gesellschaft in Estland sieht, erkennt den Unterschied. Es gibt keine Internetcafés, kaum Kopierläden. Manche Berufsbranchen wie die des Steuerberaters fallen weg. Hierzulande wird seit Monaten darüber diskutiert, wer die Kosten für den Breitbandausbau tragen soll und ob es nicht an der Zeit wäre, durch die Abschaffung der Störerhaftung freie W-Lan-Hotspots zu fördern. Für einen Esten wirkt das kurios und weltfremd. Die Deutsche Bahn wirbt nun damit, dass es nun in der Ersten Klasse kostenlose Telekom-Hotspots gibt. Nur wer in Estland gelebt hat, sieht den Zeitgewinn im täglichen Leben. Behördengänge fallen einfach weg.

Der junge Premierminister Taavi Rõivas war zuletzt Anfang Januar Gast bei der Winterklausur der CSU-Landesgruppe, zuvor auch von Angela Merkel eingeladen. Dennoch: Zu groß ist aus der deutschen Brille der Quantensprung. Auch deshalb überwiegt der Argwohn gegenüber dem estnischen Export- und Staatsmodell 4.0. Dabei steht der Wettbewerb im digitalen Binnenmarkt erst am Anfang. Der Grad der Digitalisierung und der Entwicklungsstand der digitalen Infrastruktur bestimmen inzwischen die Standortwahl von Investoren. Wir leben in einer Wissensgesellschaft. Das wird auch früher oder später der deutsche Bürger merken, auch wenn er nicht nach Estland reist. Die gewaltige Herausforderung durch den Flüchtlingszustrom lässt sich nur digital lösen, von der Registrierung bis hin zur Bereitstellung von e-learning-Programmen für Sprach- und Kulturerwerb.

Der Autor ist Politikberater in Berlin und estnischer e-resident.

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