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Gastkommentar: Die deutsche Wirtschaft ist parasitär

Deutschland hat ein Lohnproblem, das zunehmend zum Problem der Euro-Zone wird. Die lohnpolitische Bilanz des letzten Jahrzehnts ist verheerend.

Der Anteil der Löhne am Volkseinkommen ist seit 2000 von 72 auf 64 Prozent gefallen. Das macht pro Jahr rund 135 Milliarden Euro weniger in den Taschen der Arbeitnehmer. Sogar im Aufschwung fielen die Reallöhne. Das war das Ergebnis massiver politischer Eingriffe wie der rot-grünen Agenda 2010. Es ist kein Zeichen politischer Klugheit, wenn Kanzlerin Merkel vor dem G-20- Gipfel auf den mit Lohnverzicht erreichten Exportvorteilen besteht und internationale Regeln ablehnt. Möglicherweise ist sie bald dazu gezwungen, die Scheuklappen abzulegen.

Als der luxemburgische Premier Jean-Claude Juncker im Frühjahr kritisierte, Deutschland habe seine Wettbewerbsfähigkeit durch „Lohn- und Sozialdumping“ verbessert und „ganze Teile der Bevölkerung in den Niedriglohnsektor herabgedrückt“, sprach er für viele seiner europäischen Kollegen. Denn Länder wie Deutschland verkaufen wegen ihrer Billiglöhne immer mehr Waren und Dienstleistungen ins Ausland, als sie von dort einkaufen. Der Kern der Euro-Krise sind nicht zu hohe Staatsausgaben, sondern die schlechte Lohnentwicklung in Deutschland. Die Lohnstückkosten, das heißt die Löhne im Verhältnis zur Produktivität, stiegen seit 2000 in Deutschland um zwei Drittel weniger als in der Euro-Zone. Deutschland hat so in zehn Jahren einen Exportüberschuss von einer Billion Euro aufgehäuft. Das treibt unsere Handelspartner, vor allem in Europa, in die Schuldenfalle.

Die Exporte wachsen ungebremst, die Wut auf Deutschland auch. Wenn die deutscheWirtschaft weiter einem parasitären Entwicklungsmodell folgt und durch Lohndumping auf Kosten anderer Länder und der eigenen Arbeitnehmer wächst, dann werden die Rufe nach einem Rauswurf Deutschlands aus der Euro- Zone lauter werden.

Das Problem hat ein globales Ausmaß. Ende Oktober forderte US-Finanzminister Timothy Geithner eine Bremse für Exportüberschüsse, um die Weltwirtschaft und die Wechselkurse zu stabilisieren. Geithner schlägt vor, dass kein Land mehr als vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts an Überschüssen oder Defiziten in der Leistungsbilanz anhäuft. Die Reaktion aus Deutschland war harsch, ablehnend und dumm. Geithners Vorstoß war ein handelspolitisches Friedensangebot. Jeder der die regelmäßigen Warnungen aus der Bundesregierung vor einem „Währungskrieg“ hört, sollte wissen, dass Merkel alles andere als ein Friedensengel ist. Der G-20-Gipfel ist eine Chance, den Gesprächsfaden wieder aufzunehmen.

Die Verhandlungen über die Reform des EU-Stabilitätspakts sind eine gute Gelegenheit, um in ein solches System in der Euro-Zone einzusteigen. Wir sollten eine Exportüberschussbremse als Ergänzung der Stabilitätskriterien verankern. Sie sollte aus zwei Regeln bestehen. Wir brauchen erstens für die Euro-Länder, analog zum deutschen Stabilitätsgesetz von 1967, eine Verpflichtung zum außenwirtschaftlichen Gleichgewicht, die durch eine verbindliche Obergrenze für Leistungsbilanzüberschüsse und -defizite abgesichert wird. Die zweite Regel sollte lauten, dass die Handelsbilanz der Staaten über einen bestimmten Zeitraum ausgeglichen sein muss. Wenn ein Land hohe Überschüsse hat, dann müssen die Alarmglocken schrillen, damit ein Plan für den Abbau entwickelt wird.

Was würde passieren? Deutschland müsste seine Exportüberschüsse abbauen. Das hieße aber nicht, dass weniger exportiert würde, sondern dass das eingenommene Geld auch wieder für Importe ausgegeben werden müsste. Der Weg dahin wären steigende Löhne, Renten und Sozialleistungen – kurzum eine steigende Massennachfrage. In Deutschland würde dann schnell ein Mindestlohn eingeführt. Die Lohnbremsen im Arbeitsrecht wären ebenso schnell Vergangenheit wie die politisch verordneten Rentenkürzungen und Hartz IV. Eine solche Regel wäre ein europäischer Lohnerhöhungsmotor. Wir würden unser Lohnproblem lösen und die Euro-Zone retten. Warum eigentlich nicht, Frau Merkel?

Der Autor ist Vorsitzender der Linkspartei.

Klaus Ernst

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