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Gastkommentar: Sarrazin, Seehofer, Wulff - und Deutschlands besondere Verantwortung

Die Deutschen haben gelernt, wozu Antisemitismus führen kann. Marc Young meint, sie sollten deshalb stärker die zunehmende Hetze gegenüber Muslimen in Europa bekämpfen.

Pedanten werden nicht müde, darauf hinzuweisen, dass der Begriff Antisemitismus nicht nur auf Vorurteile gegenüber Juden anzuwenden sei, sondern auch auf Vorurteile anderen semitischen Völkern wie Arabern gegenüber. Ausnahmsweise billige ich solch semitische Semantik, insbesondere angesichts der zunehmend ätzenden Debatte über die Integration arabischer und türkischer Immigranten in Deutschland. Denn leider wird immer deutlicher, dass die ablehnende Haltung gegenüber Muslimen in Europa eine neue Art Antisemitismus ist.

Horst Seehofer, zum Beispiel. Der bayerische Ministerpräsident forderte vergangene Woche, die Einwanderung aus islamischen Ländern zu beenden. Seine Bemerkung hätte als hilfloser Versuch abgetan werden können, mit fremdenfeindlichen Äußerungen Stimmung für die CSU zu machen. Doch Seehofer war nicht der Einzige: Etliche Unionspolitiker hatten zuvor die Aussage von Bundespräsident Wulff, der Islam sei ebenso ein Teil Deutschlands wie das Christentum und das Judentum, mit teils scharfen Worten kritisiert. Christine Haderthauer von der CSU meinte sogar, es könne keine religiöse Gleichstellung für den Islam in Deutschland geben.

Nein, das was Thilo Sarrazin mit seiner abwegigen These, dass muslimische Einwanderer Deutschlands Untergang seien, ausgelöst hat, sollte nicht einfach als harmloser Populismus unsicherer Politiker verharmlost werden.

In ähnlicher Manier wie der Statistik-verliebte Sozialdemokrat Sarrazin ganze Bevölkerungsgruppen auf simple Zahlen reduziert, spricht der Konservative Seehofer mit seiner Bemerkung ein Kollektivurteil über Türken und Araber im Allgemeinen.

Leider bleiben derlei vorurteilsbehaftete öffentliche Äußerungen nicht ohne Konsequenzen. Aktuelle Umfragen zeigen, dass in Deutschland die Abneigung gegen den Islam und die Fremdenfeindlichkeit zunehmen.

Tragischerweise musste etwas so Entsetzliches wie der Holocaust stattfinden, um die Gleichberechtigung von Juden in westlichen Demokratien wie Großbritannien und den Vereinigten Staaten zu gewährleisten, wo eine anti-jüdische Gesinnung bis zum Zweiten Weltkrieg weit verbreitet war.  Niemand sollte vergessen, dass es letztlich die unvergleichlichen Verbrechen Nazi-Deutschlands am europäischen Judentum waren, die antisemitische Äußerungen in der Öffentlichkeit fortan gesellschaftlich inakzeptabel machten.

Im Gegensatz zu vielen anderen Nationen hat Deutschland entschlossen die dunklen Seiten seiner Geschichte aufgearbeitet, um daraus zu lernen.  Daher darf dieses Land es jetzt nicht zulassen, dass eine gesamte Bevölkerungsgruppe aufgrund ihrer Religion oder Herkunft diskriminiert wird.

Viele deutsche Konservative haben in jüngster Zeit häufig Deutschlands "christlich-jüdische Tradition" erwähnt – was in englischer Sprache als "Jüdisch-Christlich" bezeichnet würde.  Aber es ist nicht nur die chronologische Zeitfolge der drei monotheistischen Glaubensrichtungen Judaismus, Christentum und Islam, die es ermöglicht, Juden mitein- und Moslems gleichzeitig auszuschließen.

Vor allem anderen ist es der Holocaust. Kein normaler Mensch versucht heutzutage den enormen kulturellen jüdischen Beitrag zur deutschen Gesellschaft abzustreiten – und das zu Recht. Allerdings benötigt es nicht viel Fantasie, um Parallelen zwischen der Hetzrhetorik, die sich dieser Tage gegen Moslems richtet, und derjenigen gegenüber der jüdischen Bevölkerung in der Vorkriegszeit zu erkennen.

Ich muss ausdrücklich betonen, dass ich in keiner Weise die Judenverfolgung durch die Nazis mit der schwelenden anti-muslimischen Stimmung im demokratischen Deutschland der Gegenwart vergleichen will. Aber genauso, wie es seinerzeit völlig akzeptabel war, über Juden herzuziehen und sie für Probleme in der Gesellschaft zum Sündenbock zu machen – in Deutschland genauso wie in den westlichen Demokratien Amerika und Großbritannien –, werden heutzutage Millionen von gesetzestreuen, völlig integrierten Muslime zur Zielscheibe unfairer Beschuldigungen.

Es wäre einfach zu behaupten, dieser neue Antisemitismus habe nach dem 11. September 2001 begonnen. Jedoch haben Europas Einwanderungsprobleme recht wenig mit der hysterischen Panikmache zu tun, Osama bin Ladens "Islamofaschisten" planten angeblich die Weltherrschaft.

Deutschlands Probleme mit der Integration von Muslimen haben eine wesentlich längere Geschichte – begründet in der jahrzehntelangen Verweigerung, türkische und andere Einwanderer als bleibenden Bestandteil der Gesellschaft anzusehen.

Natürlich könnte mancher Araber und mancher Türke besser in die deutsche Gesellschaft integriert sein. Aber es widerspricht dem Grundgedanken einer liberalen westlichen Demokratie, alle Menschen einer bestimmten Religion als unerwünschte Unruhestifter zu bezeichnen.

Egal welche Herkunft oder Glauben: Wer sich an die Prinzipien einer Staatsverfassung hält – im Falle Deutschlands an das Grundgesetz –, sollte willkommen sein. Alles andere ist plumpe Intoleranz.

Der Autor ist Chefredakteur der Internetzeitung "The Local", die in englischer Sprache aus Deutschland berichtet. Übersetzung aus dem Englischen von Natascha Hoffmeyer.

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