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Hans-Dietrich Genscher

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Gastkommentar von Hans-Dietrich Genscher: Europa steht wieder einmal am Scheideweg

Ohne Solidarität zerbröckelt die ganze Eurozone. Für Europa geht es jetzt darum, aus der Not eine Tugend zu machen. Das heißt, wir brauchen nicht weniger, sondern mehr Europa.

Nicht der Euro ist in der Krise, sondern Europa selbst. Europa steht deshalb vor einer Gestaltungsaufgabe von historischem Ausmaß. Notwendig ist es, die aktuellen Probleme in einigen Mitgliedstaaten der Eurozone zu überwinden. Die Probleme Griechenlands, Irlands, Portugals, aber auch Spaniens und Italiens können nur in diesen Ländern und nur von diesen Ländern selbst gelöst werden. Um ihre Handlungsfähigkeit zu sichern, sind sie auf die Solidarität der ganzen Eurozone angewiesen. Geschieht das nicht, wird die Eurozone zerbröckeln. Gleichzeitig muss gehandelt werden, damit Europa nicht von einer Krise in die nächste stolpert. Was also hat zu geschehen?

Die betroffenen Länder müssen durch entschlossene Haushaltsentscheidungen und Strukturverbesserungen ihre Wettbewerbsfähigkeit wiederherstellen. In dieser Phase brauchen sie die Solidarität der Partnerländer. Die Europäische Währungsunion (EWU) muss durch entschlossene Schritte das Vertrauen in den Euro auf den Finanzmärkten wiederherstellen.

Bei der Vorbereitung der EWU hat Deutschland mit Recht um einen wirksamen Stabilitätspakt gerungen. Der damalige deutsche Finanzminister Theo Waigel hat sich dabei im besten Sinne des Wortes um den Euro verdient gemacht. Die Sicherung der Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank war für Deutschland unverzichtbar. Wachsende Kohäsion der Wirtschafts- und Finanzpolitik der Eurostaaten durch Stärkung der Finanzinstitutionen wurde von den Eurogegnern mit dem Totschlagsargument „Keine europäische Wirtschaftsregierung!“ verhindert. Mehr noch. Stabilitätsverstöße durch Länder wie Deutschland und Frankreich wurden zum schlechten Beispiel für Schlimmeres. Eurostat, dem Europäischen Statistischen Amt, wurden die erforderlichen Prüfungsrechte für das von den Mitgliedstaaten zur Verfügung gestellte Zahlenmaterial verweigert. Das Fehlen automatischer Sanktionen bei Vertragsverstößen hat wichtige Stabilitätsforderungen zahnlos werden lassen. Der Ruf nach einer Europäischen Ratingagentur war laut, verhallte aber. Natürlich ist das Thermometer nicht schuld, wenn es vorhandenes Fieber anzeigt. Wenn aber die in der Dollarzone beheimateten Ratingagenturen im Vorfeld der großen Finanzkrise ihre Begrenztheit beweisen, dann sollte ein funktionierendes Thermometer zur Hand sein. Was möglich ist, wenn Einsicht und Wille vorhanden sind, hat Griechenland gezeigt und Italien zeigt es sehr deutlich in diesen Tagen.

Für Europa geht es jetzt darum, aus der Not eine Tugend zu machen. Das heißt, wir brauchen nicht weniger, sondern mehr Europa. Wir müssen Schwächen der Verträge von Maastricht überwinden und die dort getroffenen Regelungen durchsetzen. Europa braucht eine immer engere wirtschafts- und finanzpolitische Zusammenarbeit zur Sicherung globaler Wettbewerbsfähigkeit. Die europäischen Organe brauchen die erforderlichen Kompetenzen. Die herablassend zur Seite geschobenen Vorschläge, die EZB-Präsident Trichet unlängst in Aachen präsentierte, gehören wieder auf den Tisch.

Europa ist längst zu einem Global Player geworden. Das begründet globale Verantwortung. Das verlangt Kraft und Weitsicht, es verlangt europäische Staatskunst. Frankreich und Deutschland sind aufgerufen, gemeinsam zu handeln. Das erfordert bei beiden neue Einsichten. Frankreich und Deutschland sollten die Initiative ergreifen, um die erkannten Mängel abzustellen. Die Welt blickt auf Europa. Keineswegs schadenfroh, sondern besorgt. Europa steht wieder einmal am Scheideweg. Diesmal geht es nicht allein um uns Europäer, es geht um eine stabile globale Weltordnung.

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