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Muslime in Deutschland. Die Emanzipation bietet für Jonathan Laurence einen Ausweg aus der falschen Dichotomie von Integration oder Assimilation.

© dapd

Islam: Muslime in Deutschland brauchen Emanzipation

Weder Integration noch Assimilation sind die richtigen Wörter für zwei Millionen Muslime, die hier in Deutschland, geboren, aufgezogen und ausgebildet wurden. Diese Menschen brauchen einen neuen Status, meint unser Gastautor Jonathan Laurence: Die Lösung heißt: Emanzipation.

Anlässlich des muslimischen Opferfestes hat Bundespräsident Joachim Gauck im Oktober die Berliner Sehitlik-Moschee besucht. Seine Kritiker ließ diese Tatsache Hoffnung schöpfen – jene Kritiker nämlich, die seine frühere Weigerung bedauert hatten, den Islam als integralen Bestandteil Deutschlands anzuerkennen. Diese Kehrtwende legt Gaucks paradoxe Haltung offen, die in Deutschland und vielleicht auf dem ganzen Kontinent vorherrscht und die das muslimische Leben im Europa des 21. Jahrhunderts bestimmt. Trotz enormer Fortschritte genießen die europäischen Muslime immer noch nicht das, was im historischen Kontext „Emanzipation“ genannt wird.

Kein demokratisch gesinnter Politiker in Deutschland leugnet, dass die Präsenz des Islam in Europa von Dauer sein wird. Aber während der Islam in der Öffentlichkeit demonstrativ willkommen geheißen wird, löst er zunehmend heftigen Widerstand bei den Nativisten aus, die von Muslimen einen Loyalitätsbeweis und mehr Integrationsbemühungen als Gegenleistungen für ihre Zugehörigkeit zur Gesellschaft einfordern. Islamkritischer Populismus ist längst nicht mehr nur an den Rändern des politischen Spektrums zu Hause. Dieser Populismus reißt eine Wunde wieder auf, die 1999 durch die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts geschlossen werden sollte. Die neuen „Bindestrich-Deutschen“ sind frustriert angesichts der Grenzen, die ihrer Religionsfreiheit gesetzt werden und angesichts der Bigotterie im Kampf gegen den politischen und religiösen Extremismus.

Die Einbindung islamischer Organisationen und auch ihre Einbettung in bestehende gesellschaftliche Strukturen in Deutschland und Europa funktionieren zunehmend besser: Die Deutsche Islamkonferenz und ähnliche Gipfeltreffen von Politikern und Verbänden haben zu Hunderten neuer Gebetsräume und Gotteshäuser geführt, auch wenn viele davon noch im Bau sind. Ebenso positiv anzumerken sind die verbesserten Angebote religiöser Erziehung in Schulen und die immer größere Zahl von Imamen, Lehrern und Theologen, die im Land ausgebildet werden.

Der rechtliche und politische Status des Islam in Europa hingegen entzieht sich trotz aller Bemühungen einer Einordnung. Zwei Entwicklungen behindern seine Verankerung: Die Islamkritik in Europa verschiebt sich von der Betonung der Neutralität des öffentlichen Raumes und der Verteidigung westlicher Menschenrechtsvorstellungen hin zu einem generellen Unbehagen gegenüber allen muslimischen Glaubenspraktiken. Das wiederum ruft in den Herkunftsländern Beschützerinstinkte hervor, Ministerien werden geschaffen, um die religiösen, politischen und wirtschaftlichen Bande mit der Diaspora zu erhalten.

Das ist der Ausweg aus der falschen Dichotomie von Integration und Assimilation

Die Emanzipation in dem aufklärerischen Sinn dieses Wortes, den die preußischen Reformer Stein und Hardenberg meinten, bietet einen sicheren und realistischen Ausweg aus dem Dilemma: Den Eintritt einer zuvor ausgeschlossenen Gruppe in eine demokratische Gesellschaft, basierend auf bestehenden Gesetzen, mit den gleichen Rechten und Pflichten für alle Bürger. Emanzipation umfasst auch Kollektivrechte, falls diese Bürger sich entschließen, einer religiösen oder einer anderen Art von Gemeinschaft beizutreten. Natürlich waren damit immer auch Auflagen verbunden, wie solche zur Steuer- oder zur Wehrpflicht. Emanzipation ist ein ungleichmäßiger Prozess, der sich über mehrere Generationen hinzieht. Die Juden Frankreichs erhielten bereits im Jahr 1791 gleiche Rechte, wohingegen jene in Deutschland bis zur Reichsverfassung 1871 warten mussten. Ihm eigen war dabei schon immer eine Art doppelter Handschlag zwischen Staat und Religionsgemeinschaft: Mit der einen Hand sorgt der Staat für Gleichheit und erteilt Rechte. Mit der anderen erzwingt er Anpassung und eine Reform der Gemeindestrukturen.

Auf dem langen und schwierigen Weg der Demokratisierung im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts wurde von der politischen Teilhabe ausgeschlossenen Menschen – Juden, Katholiken, die Arbeiterklasse – nach und nach das volle Bürgerrecht gewährt. Ihnen wurde auch der Status „gesellschaftliche Gruppe“ zugestanden, sie konnten sich in Verbänden, Interessengruppen und Gewerkschaften organisieren, um institutionelle Privilegien wahrzunehmen und ihre Interessen innerhalb eines gesetzlich verankerten Rahmens zu vertreten.

Aber warum sollten wir heute noch den überkommenen Begriff „Emanzipation“ verwenden? Das Wort beschwört die Misserfolge der deutschen Demokratie herauf, dabei könnte es auch die lichten Momente des deutschen Demokratisierungsprozesses beleuchten. Zwölf Jahre „Drittes Reich“ sollten nicht die schon zuvor errungenen Fortschritte negieren.

NSU-Morde haben zu verstärktem Misstrauen geführt

Muslime in Deutschland. Die Emanzipation bietet für Jonathan Laurence einen Ausweg aus der falschen Dichotomie von Integration oder Assimilation.
Muslime in Deutschland. Die Emanzipation bietet für Jonathan Laurence einen Ausweg aus der falschen Dichotomie von Integration oder Assimilation.

© dapd

Die Emanzipation bietet einen Ausweg aus der falschen Dichotomie von Integration oder Assimilation. Integration kann nicht der passende Begriff sein für jene zwei Millionen Menschen, die hier in Deutschland geboren, aufgezogen und ausgebildet wurden, und die sich selbst nicht als Ausländer oder Immigranten begreifen. Assimilation wiederum klingt für sie wie ein Euphemismus für Auflösung. Mit anderen Worten: Wenn ihr eure Kopftücher ablegt, eure Minarette aufgebt, mit euren brutalen Schlachtritualen und Beschneidungen aufhört, dann kommen wir ins Geschäft – willkommen! Im Gegensatz dazu bedeutet Emanzipation im historischen Kontext die Unterwerfung unter das geltende Recht, wofür im Gegenzug der Schutz durch den Staat gewährt wird, womit auch der Schutz vor radikalen Predigern gemeint ist.

Warum muss man Religion in dieser Debatte überhaupt mit einbeziehen? Ist der Fokus auf die religiöse Frage nicht irreführend, trägt er nicht zu unnötigen Abgrenzungsbewegungen bei? Es gibt keinen Grund automatisch davon ausgehen, dass Religiosität das konstituierende Element der Identität der hier Geborenen mit Migrationshintergrund wäre. Genauso wie freie Märkte nicht im luftleeren Raum der Theorie existieren, sondern auf verschiedenste Weisen reglementiert werden, ist auch die umfassende Staatsangehörigkeit reglementiert, durch unzählige formelle und informelle Institutionen. Die Staatsangehörigkeit garantiert individuelle religiöse Rechte. Aber es ist der Gruppenstatus – im Normalfall gesetzlich verankert –, der diese Rechte im Alltag implementiert, in Rathäusern, Ministerien, Streitkräften, Gefängnissen, Schulen, Krankenhäusern und manchmal sogar auf der Straße.

Auch wenn nicht alle europäischen Staaten eine explizite Politik gegenüber Immigranten und fremden Kulturkreisen verfolgen, verfügen sie alle über Behörden, die sich mit Religion beschäftigen und Religionsgruppen Privilegien gewähren. Oft existieren formalisierte Beziehungen zu Glaubensgemeinschaften. Die Beziehungen des deutschen Staates zum Islam werden zunehmend zur Grundlage des deutschen Islams. Muslimische Schüler in Nordrhein-Westfalen haben die Möglichkeit, an islamischem Religionsunterricht teilzunehmen. Das Land Hamburg hat gerade einen historischen Staatsvertrag mit mehreren großen Islamverbänden abgeschlossen. An acht Universitäten wurden Zentren für Islamstudien oder Lehrstühle für die Ausbildung von künftigen Lehrern, Imamen und Theologen eingerichtet. Doch die Bemühungen sind bisher unzureichend: Eingeschrieben in die neuen Studiengänge haben sich bislang einige Dutzende, obwohl in Deutschland mehr als 2000 Imame gebraucht werden.

Die neue Institutionalisierung hat indes bereits geholfen, Spannungen bezüglich der „Verteidigung“ des Islams abzubauen und die zyklisch wiederkehrenden religiösen Zwistigkeiten und Skandale einzudämmen. Der Youtube-Nutzer, der im September ein anti-islamisches Video hochgeladen hatte, das sich daraufhin wie ein Lauffeuer verbreitete, war ein „geistiger Brandstifter“. Aber die muslimischen Gemeinschaften Europas haben bewiesen, dass sie nicht einem Pulverfass gleich nur auf einen Funken warten, um zu explodieren. Die Bilder von Attacken auf Schulen, Konsulate und Botschaften waren entmutigend, doch all die tragische Gewalt fand anderswo statt. In Europa entlud sich die Wut in Gerichtsprozessen und kleineren Demonstrationen.

Es ist verlockend zu glauben, nichts hätte sich in dem Vierteljahrhundert seit dem Erscheinen von Salman Rushdies „Satanischen Versen“ geändert. Aber die Reaktion auf gewaltbereite Extremisten sollte in Relation zu deren Zahl gesetzt werden. Die vor Gerichte gebrachten Anklagen gegen Autoren und Magazine beweisen die fortschreitende Emanzipation der europäischen Muslimen. Indem sie ihre Empörung zum Ausdruck gebracht und gegen die Diskriminierung vorgegangen sind, haben sie begonnen, ihre demokratischen Rechte wahrzunehmen.

Deutschland bietet einzigartige Möglichkeit zur Neujustierung

Muslime in Deutschland. Die Emanzipation bietet für Jonathan Laurence einen Ausweg aus der falschen Dichotomie von Integration oder Assimilation.
Muslime in Deutschland. Die Emanzipation bietet für Jonathan Laurence einen Ausweg aus der falschen Dichotomie von Integration oder Assimilation.

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Ein anderes Beispiel dafür gab es während der letzten Wahlen in Nordrhein-Westfalen. Im Nachgang der gewalttätigen Proteste von Salafisten gegen Mohammed-Karikaturen in Bonn passierte etwas Bemerkenswertes. Islamverbände, die hunderttausende Muslime in Deutschland repräsentieren, verurteilten die Gewalt und riefen ihre Mitglieder dazu auf, ihre Meinung zu äußern, indem sie an Wahlen teilnehmen. Da der Anteil der Muslime mit ausländischem Pass in Deutschland sinkt, entfalten demokratische Institutionen zunehmend ihre Wirkung.

Trotzdem erinnern die gemischten Erfahrungen mit dem aktuellen Bundesinnenminister oftmals an die Notwendigkeit eines überparteilichen Konsenses in der Islampolitik. Die NSU-Morde sowie die Enthüllungen über die möglicherweise auf dem rechten Auge blinden Sicherheitsorgane haben zusammen mit der Neuausrichtung der Extremismusbekämpfung zu einem verstärkten Misstrauen gegenüber den Institutionen geführt.

Wie die Muslime ihre Situation wahrnehmen, ist entscheidend, und viele glauben, dass sich der Status ihrer Gemeinschaft immer wieder dramatisch verändert, von Präsident zu Präsident, von einer Regierung zur nächsten. Die Kommunikationskanäle zwischen Verbänden und Behörden sind zwar in Krisenzeiten nie ganz zusammengebrochen, aber die Beziehungen haben gelitten. Damit steht Deutschland nicht alleine da. Frankreich, Italien, Holland, Spanien und Großbritannien haben ähnliche Erfahrungen gemacht. Solange kein überparteilicher Konsens besteht, richtet sich der Fokus innerhalb der Gemeinschaft wieder auf die Frage der doppelten Bürgerschaft, nur für alle Fälle sozusagen. Der Vertrauensverlust in deutsche oder europäische Institutionen würde eine Rückkehr zur Internationalisierung bedeuten.

Deutschland bietet sich aber auch die einzigartige Möglichkeit zu einer Neujustierung. Der Kampf um die doppelte Staatsbürgerschaft sollte sich nicht um die Frage nach der Konfiszierung ausländischer Pässe drehen. Sondern darum, dass ein deutscher Ausweis mit Verpflichtungen des Staates gegenüber seinen Bürgern einhergeht. Ohne ein Mindestmaß an zugesicherten Rechten wird es immer das Bedürfnis nach Beschützern geben, mögen diese aus den Regierungen der Herkunftsländer kommen oder aus transnationalen politischen Bewegungen.

Der gesamte Problemkomplex ist eine mehrstufige Wechselbeziehung zwischen dem Staat und religiösen Akteuren innerhalb und außerhalb der Grenzen dieses Staates. Dennoch ist es letztlich der Staat, der das Recht seiner Bürger auf freie Religionsausübung garantieren muss. Nur die einzelnen europäischen Regierungen können die europäischen Muslime emanzipieren, und je länger es kein endgültiges Abkommen über ihren Status gibt – in welcher Form auch immer, ob als „Religionsgemeinschaft“ oder als Körperschaft oder als etwas vollkommen Neues – umso fragiler wird dieser Prozess, und umso leichter lässt er sich wieder umkehren. Bis dahin besteht die ernst zu nehmende Gefahr, dass die spärlichen ersten Errungenschaften der Emanzipation wieder zunichte gemacht werden, noch bevor die Eingliederung der Muslime geglückt ist.

Jonathan Laurence ist Associate Professor of Political Science am Boston College und Verfasser von "The Emancipation of Europe's Muslims" (Princeton University Press, 2012). Der Text ist die gekürzte Fassung seines Vortrags an der American Academy in Berlin, wo er derzeit Fellow ist. Aus dem Englischen übersetzt von Nik Afanasjew.

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