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Der serbische Präsident Boris Tadic war vorzeitig von seinem Amt zurückgetreten, um die Wahl des Staatsoberhauptes gemeinsam mit der des Parlaments am 6. Mai zu ermöglichen.

© dpa picture alliance

"Kurz gesagt" zur Serbienwahl: Zwischen Wut und Resignation

Angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Misere ist ein Großteil der serbischen Wähler resigniert. Die Wahl am 6. Mai, glaubt Dušan Reljić, wird daher wohl lediglich eine Entscheidung für das "kleinere Übel" sein.

Nur etwa 1,63 Millionen Beschäftigte in Serbien erhielten im Februar ihren Monatssold, gleichzeitig wurden 1,68 Millionen Renten ausgezahlt. Dies berichtete jüngst die Belgrader Tageszeitung "Politika". Höchstens ein Fünftel aller Firmen kann ihre Beschäftigten fristgerecht vergüten, so dass immer mehr Menschen ohne die Gewissheit arbeiten, dass das Verdiente auch ausbezahlt wird. Seit Ende 2008 haben etwa 450.000 Menschen in Serbien ihren Job verloren, die Beschäftigtenzahl ist auf ein historisches Minimum gesunken. Über 50 Prozent aller arbeitsfähigen Einwohner des Landes, die jünger als 30 sind, sind arbeitslos.

So dürfte es niemanden überrascht haben, dass kurz vor den serbischen Lokal-, Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 6. Mai ein Thema absolut vorherrscht: die Wirtschafts- und Sozialpolitik. In den Meinungsumfragen führen 90 und mehr Prozent der Befragten an, dass sie jener Partei ihre Stimme geben werden, der sie zutrauen, für höhere Gehälter, mehr soziale Gerechtigkeit sowie die Bekämpfung von organisierter Kriminalität und Korruption zu sorgen. Annähernd vier Fünftel der Befragten geben an, Unzufriedenheit, Wut, Machtlosigkeit, Angst und Resignation zu empfinden.

Südosteuropa, einschließlich Serbiens, leidet nicht nur an althergebrachten strukturellen Schwächen in Wirtschaft und Gesellschaft, die Region kann sich auch den Auswirkungen der Eurozonenkrise nicht entziehen: Im Außenhandel, bei den Kapitalinvestitionen sowie im Bankwesen ist die Region weitgehend, in absteigender Reihenfolge, von Deutschland, Italien, Österreich, Griechenland, Frankreich und Ungarn abhängig. Das Transitions- und Entwicklungsmodell, das in der Region in den letzten zwei Jahrzehnten Anwendung fand, hat sich als Fehlschlag erwiesen. Zwar ist die Wirtschaft liberalisiert worden, zugleich aber sind Industrieproduktion und internationale Wettbewerbsfähigkeit drastisch gesunken; Auslandsverschuldung und Haushaltsdefizit sind gestiegen. Wie die Bevölkerung der meisten anderen südslawischen Staaten werden auch die Einwohner Serbiens im Schnitt immer älter. So lastet der Schuldenberg auf den Schultern immer weniger junger Menschen. Unter solchen Bedingungen ist es unmöglich, die sozioökonomische Kluft zur EU bald zu schließen: Serbien erwirtschaftet derzeit nur etwa 40 Prozent des durchschnittlichen Bruttosozialprodukts der EU-27. Ohne kräftige Finanzspritzen aus dem Ausland, vor allem für die Wiederbelebung der industriellen Produktion und des Exports, ist an eine Besserung nicht zu denken.

EU-Beitritt und die Kosovo-Frage werden als Wahlkampfthemen gemieden

Mit einigem Abstand zur Wirtschafts- und Sozialpolitik sind auch der Beitritt zur Europäischen Union (relevant für 64 Prozent der Befragten) und die Regelung der Kosovo-Frage (38 Prozent) Themen, die die Menschen beschäftigen. Allerdings sind es nur die Parteien am rechten Rand, vor allem die Serbische Radikale Partei (SRS) des Haager Häftlings Vojislav Šešelj und die Demokratische Partei Serbiens (DSS) des früheren Staatspräsidenten Vojislav Koštunica, die diese zwei Themen in den Mittelpunkt ihrer Wahlkampagne gerückt haben: Sie wettern gegen den EU-Beitritt Serbiens nicht nur, weil die Schlüsselstaaten der Europäischen Union Kosovo anerkannt haben, sondern auch weil sie die Aufnahme Serbiens in die Gemeinschaft in der Zukunft offensichtlich von der Aufgabe des völkerrechtlichen Anspruchs auf Kosovo abhängig machen werden.

Zwei Drittel der befragten Wähler meinen, dass Serbien nicht der EU beitreten sollte, wenn dies den endgültigen Verzicht auf Kosovo bedeutete. Entsprechend heikel ist eine klare Positionierung der führenden Parteien des Landes in dieser Frage, denn sowohl die zentristische Demokratische Partei (DS) von Präsident Tadić wie auch die konservativ-populistische Serbische Fortschrittspartei (SNS) seines Herausforderers Tomislav Nikolić haben sich dem EU- Beitritt als wichtigstem außenpolitischen Ziel verschrieben. Durch die baldige Aufnahme in die EU, so versprechen sie den Wählern, werde Serbien endlich den lang erwünschten wirtschaftlichen und politischen Ruck nach vorne schaffen. Allerdings widerspricht diese Erwartung der eindeutig sinkenden Bereitschaft der EU-Schlüsselländer, in absehbarer Zukunft Neueintritte zu erwägen. Vor allem im Nordwesten der EU wird eindringlich auf die "mangelnde Beitrittsreife" der Kandidaten und die "begrenzte Absorptionsfähigkeit" der Gemeinschaft hingewiesen.

Wer aus den Wahlen am 6. Mai in Serbien als Sieger hervorgehen wird, ist aus den derzeitigen Meinungsumfragen nicht zu entziffern. Zu knapp ist der Abstand zwischen Nikolić und Tadić. Beide Politiker und ihre Parteien verbuchen jeweils knapp 30 Prozent Unterstützung für sich, der Rest verteilt sich über mindestens fünf Parteien, die wahrscheinlich die Fünfprozenthürde nehmen werden. Hinzukommen werden mit Sicherheit mehrere Parteien der ethnischen Minderheiten, für die eine niedrigere Sperrklausel gilt. Eine Vielzahl verschiedener Koalitionsregierungen ist denkbar, weil es den Politikern zumeist nicht um programmatische oder ideologische Fragen, sondern schlicht um die Erlangung der notwendigen arithmetischen Mehrheit geht, die nötig ist, um auf die Regierungsbank zu gelangen.

Vor der Stichwahl am 20. Mai wird darum gekämpft werden, welche der Parteien Nikolić oder Tadić die meisten Stimmen bei der Präsidentschaftswahl zuführen kann und entsprechend mit Posten in der Regierungskoalition abgefunden wird. So ganz aber lassen sich die Wähler nicht für dieses Parteiengeschacher vereinnahmen. Letztlich könnte entscheidend sein, wen die Bürger angesichts der allgemeinen Misere für das kleinere Übel halten. Immerhin sind der derzeitige Präsident und die von ihm geführte Parteienkoalition für die Menschen eine bekannte Größe. So könnte Tadić noch einmal reüssieren.  

Dušan Reljić forscht an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) u.a. zu aktuellen Entwicklungen im Westbalkan. Die Stiftung berät Bundestag und Bundesregierung in allen Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik. Der Artikel erscheint auf der SWP-Homepage in der Rubrik "Kurz gesagt".

Dušan Reljić

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