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Nach dem Bombenanschlag in Boston steht Tschetschenien seit langer Zeit wieder im Fokus der Berichterstattung.

© dpa

Nach den Anschlägen von Boston: Tschetschenien im Fokus

Weil die Bombenattentäter von Boston aus Tschetschenien stammen, steht das Land wieder im öffentlichen Fokus. Uwe Halbach analysiert die Lage in Tschetschenien und beleuchtet die Hintergründe des islamistischen Terrors im Nordkaukasus.

Der Bombenanschlag in Boston lenkt die Aufmerksamkeit auf ein Thema, das in den letzten Jahren aus der Berichterstattung verschwunden ist: Tschetschenien, das Land, aus dem die Attentäter stammen. Vieles spricht zurzeit dafür, dass es sich bei den Brüdern Tamerlan und Dschohar Zarnajew um Einzeltäter handelt. Bei dem älteren Bruder Tamerlan, der offenbar der Initiator des Terroranschlags war, gibt es Hinweise auf Reisen in den Nordkaukasus, bei denen er sich islamistisch radikalisiert haben könnte. Einen eindeutigen Hinweis auf Hintermänner aus der Region gibt es nicht. Ein Blick in den Nordkaukasus zeigt, dass sich islamistische Gewalttaten dort in den letzten Jahren auf die Region und Russland beschränkt haben.

Tschetschenien ist nicht mehr das Epizentrum von Gewalt

Zwei Kriege in Tschetschenien stehen für die schlimmsten Gewaltereignisse im ehemals sowjetischen Raum, noch weit vor dem Bürgerkrieg in Tadschikistan und den Sezessionskriegen im Südkaukasus. Der erste Krieg von 1994-96 richtete sich aus russischer Sicht gegen militante Separatisten. Diese tschetschenische Sezession war von nationalen, kaum von religiösen Motiven bestimmt. Doch schon am ersten Krieg beteiligten sich Mujahedin aus arabischen Ländern und bekundeten islamische Solidarität mit der Sezessionsbewegung. Nach dem Waffenstillstand und in einer kurzen chaotischen Periode faktischer Unabhängigkeit Tschetscheniens begann im bewaffneten Untergrund ein Prozess ideologischer Transformation - mit dem Ergebnis eines transethnischen regionalen Jihad im Nordkaukasus. Der zweite Krieg wurde im Jahr 2000 vom neuen russischen Präsidenten Putin zum Kampf gegen den internationalen islamistischen Terrorismus deklariert. 2007 besiegelte der letzte tschetschenische Untergrundpräsident Doku Umarow die ideologische Transformation und geografische Ausweitung des Widerstands mit der Ausrufung eines Kaukasus-Emirats, das mit seiner Jihad-Agenda über Tschetschenien hinaus reichte. Damit wurde Tschetschenien, mit dem der Nordkaukasus fünfzehn Jahre lang gleichgesetzt worden war, nicht mehr als das Epizentrum von Gewalt und Aufstand in der Region wahrgenommen und verschwand weitestgehend aus der Berichterstattung. 2009 hob Moskau den zehn Jahre zuvor über die Republik verhängten Sonderstatus als Zone der Terrorismusbekämpfung auf.

Mit eigenwilliger Kulturpolitik gegen Islamisten

Unter der autokratischen Herrschaft seines jungen Präsidenten Ramsan Kadyrow vollzog sich in der Republik ein Prozess des Wiederaufbaus. Von einigen russischen Kommentatoren wurde dem jungen Autokraten bescheinigt, eine effektivere Sezession Tschetscheniens aus russischer Oberherrschaft vollzogen zu haben, als es militanten Separatisten je gelungen wäre. Während er pathetisch Loyalität gegenüber dem Kreml bekundet und in Grosny Putin-Ikonen ausstellt, macht der Gewaltherrscher ganz und gar sein eigenes Ding. Dazu gehört eine eigenwillige Kulturpolitik, mit der er seinen Gegnern im islamistischen Untergrund den Wind aus den Segeln nehmen will. Während in anderen Teilen Russlands und des GUS-Raums Verschleierungs-Verbote gelten, schreibt Kadyrow Frauen unter der Parole "Zurück zur Tradition" in der Öffentlichkeit islamische Bekleidung vor. Dabei entsprechen solche Maßnahmen eher der salafistischen Sittenstrenge des Gegners als den kaukasischen oder tschetschenischen Traditionen, die der ideologischen Position dieses Gegners entgegengesetzt werden sollen.

Der regionale Jihad geht stärker von anderen Kaukasusrepubliken aus

Andere kaukasische Teilrepubliken haben Tschetschenien indessen bei der Zahl der registrierten Gewaltvorfälle überholt. 2012 gab es im Nordkaukasus insgesamt 700 kampfbedingte Todesopfer, davon mehr als die Hälfte in Dagestan, der größten kaukasischen Teilrepublik Russlands. Dort wurden knapp 300 Verbrechen verzeichnet, die mit Terrorismus im Zusammenhang standen, im restlichen Nordkaukasus 180. Nachdem Tschetschenien in diesem Gewaltspektrum etwas zurückgetreten ist, wird der Nordkaukasus nun insgesamt als die schlimmste Konfliktzone in der östlichen Nachbarschaft Europas verbucht.

Der größte Teil der begangenen Anschläge richtet sich gegen lokale und föderale Sicherheitsorgane vor Ort, auch gegen offizielle Repräsentanten eines gewaltabstinenten Islam. In Dagestan wurde ein theologischer Dialog zwischen Sufismus und Salafismus initiiert. Danach gab es Mordanschläge gegen prominente Sufi-Scheichs, die sich gegen den militanten Jihad aussprachen.

In Bezug auf Russland hat Doku Umarow, der ideologische Kopf des Kaukasus-Emirats, im Februar letzten Jahres seine Kämpfer dazu aufgerufen, von Gewalt gegenüber Zivilisten Abstand zu nehmen. Er hat dies mit Solidarität für die Oppositionsbewegung gegen Putin begründet. Der letzte spektakuläre Anschlag wurde Anfang 2011 auf dem Flughafen der russischen Stadt Domodjedowo verübt. Terroraktivitäten des Kaukasus-Emirats oder anderer Jihad-Netzwerke werden aber im Zusammenhang mit der Winterolympiade in Sotschi im Februar nächsten Jahres prognostiziert. "Da läuten die Glocken von Boston auch für uns", meint Sergej Karaganow, ein kremlnaher sicherheitspolitischer Experte, mit Blick auf das russische Prestigeprojekt Nummer eins.

Europa oder die USA standen bislang nicht mit Anschlagszielen auf der Agenda des Kaukasus-Emirats, das im Internet allerdings nicht nur Hasspropaganda gegen Russland, sondern gegen "Feinde des Islam" schlechthin verbreitet. So ist nicht auszuschließen, dass sich die Attentäter von Boston in seinem Umfeld radikalisiert haben.

Wegen der desolaten Sicherheitslage im Nordkaukasus stellt sich Russland als ein Hauptopfer des Terrorismus weltweit dar. Laut einer neuen Studie, die auf der Grundlage einer globalen Terrorismusdatei 158 Staaten untersucht, nimmt es bei Terroranschlägen zwischen 2002 und 2011 den neunten Platz ein, hinter Ländern wie Irak, Pakistan, Afghanistan , Indien und Jemen, aber weit vor Deutschland (62. Stelle) oder den USA (42. Stelle).

Das Attentat von Boston hat Präsident Putin veranlasst, mit seinem Amtskollegen Obama über gemeinsame Anstrengungen im "war on terror" zu sprechen - wie nach dem 11.September 2001 mit George W. Bush. In Bezug auf den Nordkaukasus ist die Botschaft aus Moskau jedoch zwiespältig. Einerseits fordert Russland westliche Unterstützung. Andererseits signalisiert es, dass der Nordkaukasus eine rein innerrussische und keine Angelegenheit der internationalen Politik sei. Dabei verbietet es sich Kritik an Menschenrechtsverletzungen im Zuge seiner Maßnahmen im Nordkaukasus. Angesichts der bevorstehenden Winterolympiade in Sotschi wird die Region wohl dennoch zum internationalen Thema werden.

Uwe Halbach forscht an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) unter anderem zu Sicherheitsfragen und Stabilitätsproblemen sowie Islam in sowjetischen Nachfolgestaaten. Die Stiftung berät Bundestag und Bundesregierung in allen Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik. Der Artikel erscheint auf der SWP-Homepage in der Rubrik Kurz gesagt.

Uwe Halbach

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