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Wissenschaftler am Europäischen Kernforschungszentrum CERN beobachten ein Experiment.

© dpa

Neutrinos: Verbotene Geschwindigkeitsüberschreitung

Wahnsinn oder Fehler: Sind Neutrinos schneller als das Licht? Wenn die Ergebnisse des CERN-Experiments stimmen, würde damit das gesamte Weltbild der modernen Physik widerlegt.

Sagt ein Elektron zum Neutrino: „Hast Du schon gehört, dass Einstein sich total geirrt hat?“ Antwortet das Neutrino: „Ist doch alt, das stand schon nächstes Jahr in der Zeitung!“

Neutrinos wissen mehr als andere Elementarteilchen, weil sie durch die Zeit reisen können – zumindest in den vielen Neutrino-Witzen, die derzeit die Mailboxen der Physiker füllen. Auslöser für den skurrilen Trend ist ein Experiment, mit dem das gesamte Weltbild der modernen Physik widerlegt würde – sofern die Ergebnisse stimmen, die ein internationales Forscherteam vergangenen Freitag im Europäischen Kernforschungszentrum CERN bei Genf vorstellte.

Demnach legten Neutrinos die Strecke Genf–Rom in 24.392.747,7 Nanosekunden (Milliardstel Sekunden) zurück. Das ist ein Rekord der besonderen Art, denn das Licht wäre 60,7 Nanosekunden langsamer. Gemäß der Speziellen Relativitätstheorie, die Albert Einstein bereits 1905 aufstellte, ist die Lichtgeschwindigkeit jedoch eine absolute Naturkonstante, die nicht überschritten werden kann. Demnach ist das Verstreichen der Zeit von der Geschwindigkeit abhängig, mit der sich ein Körper bewegt. Mit Annäherung an die Lichtgeschwindigkeit vergeht die (von einem unbewegten Beobachter gemessene) Zeit immer langsamer, bei Erreichen der Lichtgeschwindigkeit bleibt sie stehen. Ein Körper kann auch deshalb nicht beliebig schnell werden, weil sich kurz vor der Lichtgeschwindigkeit weitere Beschleunigungsenergie in Masse statt in Geschwindigkeit umsetzt.

Die Absolutheit der Lichtgeschwindigkeit ist ein Postulat, ohne das die Relativitätstheorie nicht funktioniert. Deshalb darf auch masselose Energie, wie eine elektromagnetische Radiowelle, nicht schneller als das Licht sein. Sonst würde diese in der Zeit rückwärts laufen und „wir könnten Telegramme in die Vergangenheit schicken“, wie Einstein schon damals witzelte. Die Spezielle Relativitätstheorie, so unglaublich sie für unsere langsam bewegte Erfahrungswelt sein mag, wurde in zahlreichen Experimenten bestätigt. Auf ihr beruht ein Großteil der technischen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts, vom Computer bis zur Kernenergie.

Die Neutrinoforscher waren deshalb selbst erschrocken über die verbotene Geschwindigkeitsübertretung, die sie gemessen hatten. Das 175-köpfige Team überprüfte sechs Monate lang noch einmal jedes Detail des Experimentes. Die Strecke des Teilchenrennens zwischen CERN und dem Gran Sasso Labor bei Rom wurde auf 731,278 Kilometer bestimmt, mit einer Genauigkeit von 20 Zentimetern. Allerdings sind die Start- und Ziellinien nicht genau zu ermitteln. Die Neutrinos wurden im Teilchenbeschleuniger durch Protonenbeschuss eines 2 Meter langen Graphitblocks erzeugt. Wo die einzelnen Neutrinos gestartet sind, lässt sich deshalb nicht exakt bestimmen.

Die Ziellinie ist noch ungenauer definiert. Neutrinos sind wie Elektronen ohne Ladung, fast masselose Partikel mit sehr hoher Energie. Weil sie von den elektrischen Ladungen der Atomkerne und der Atomhülle nicht angezogen werden, fliegen sie durch Materie hindurch wie Luft durch ein offenes Scheunentor. Nur wenn sie zufällig genau auf einen Atomkern treffen, werden sie eingefangen und setzen Energie frei, die man als schwache Lichtblitze messen kann. Um die Ausbeute zu erhöhen, haben Neutrinodetektoren deshalb gigantische Ausmaße. Im Gran-Sasso-Labor ist es ein mehrere Hundert Meter großes Areal hintereinander angeordneter Bleiwände. Um Störungen zu vermeiden, ist die Anlage in einem alten Stollen tief unter den Apenninen installiert.

Um diese Ungenauigkeiten zu eliminieren, haben die Forscher über 16 000 Einzelmessungen durchgeführt. Obwohl das Ergebnis statistisch eindeutig war, gibt es noch viele Fehlermöglichkeiten. Derzeit meint die Mehrheit der Teilchenphysiker, dass es sich um einen Messfehler handelt.

Dass mit Neutrinos eines Tages Signale in die Vergangenheit geschickt werden können, ist auch aus einem anderen Grund extrem unwahrscheinlich: Wenn dies jemals möglich wäre, hätte Einstein schon längst ein Telegramm aus der Zukunft bekommen. Das behaupten jedenfalls die Neutrinos, und die müssen es ja wissen.

Der Autor ist Mikrobiologe und Direktor des Instituts für Biologische Sicherheitsforschung in Halle.

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