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Mein Glaube, dein Glaube, unser Glaube.

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Pro & Contra: Ist Religion Privatsache?

Nichts ist so privat, wie der Glaube, könnte man meinen. Aber ist das tatsächlich so? Zwei Redakteure, beide Mitglied in der evangelischen Kirche, sagen ihre Meinung - und die könnte unterschiedlicher kaum sein.

Privatsache? Ja!

Damals, am Berg Sinai, hat der biblische Gott sich in seinen Geboten nicht dazu geäußert, ob der Glauben Privatsache sei. Aber er hat dem Menschen eine radikal persönliche Beziehung angetragen, erstes Gebot: »Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.« Am Individuum führt in dieser Beziehung kein Weg vorbei, das ist fordernd, aber umso reicher ist die Zusage, als unverwechselbarer Mensch angenommen zu sein: »Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst«, so sagt der Prophet Jesaja Gottes Wort weiter, »ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!« Angeblich war das so.

Angeblich, aber kein Mensch weiß es. Und ob es so war oder nicht, wird sich weder durch Quellenkritik noch statistisch, weder durch Dogmatik noch durch Laborwerte nachweisen lassen. Was einer glaubt, ist schon allein deshalb Privatsache, weil jeder für sich selbst herausfinden muss, was er mit der Vernunft in Einklang bringen kann und was nicht. Wer der Bibel mehr Glauben schenkt als irgendeiner herrschenden Lehre, macht das mit sich aus und mit seinem Gott.

Eine Frage der Freiheit: Was im inneren Menschen vorgeht, um den es dem biblischen Gott der Gebote ging, muss letztlich frei sein von dem, was in der Außenwelt der Gesellschaft den Menschen auf Trab hält. Was im inneren Menschen vorgeht, ist unverfügbar. Insofern ist nichts so privat wie Religion. Und wer auf sie zugreifen will, begeht eine Art seelischen Hausfriedensbruchs.

Aber dies festzustellen hilft leider wenig, um Menschen voreinander zu schützen, die seit dem Sinai im Namen der Religion übereinander herfallen. Außer konkurrierenden Ansprüchen auf die Wahrheit ist in den zahllosen Deutungen von göttlichen Geboten und heiligen Texten leider nichts Verbindliches ausfindig zu machen – aber was sich überall zeigt, ist Gewalt. Auch deshalb bleibt Religion besser Privatsache, anstatt als Treibstoff und Sprengstoff Kriege zu befeuern. Religiöser Unfrieden ist jedenfalls keine Privatangelegenheit. Weil der Dreißigjährige Religionskrieg den Kontinent Europa in die Verwüstung trieb, ist aus der restlosen Erschöpfung der moderne Staat entstanden, mitsamt seiner Vernunft, und hat für sich das Monopol reserviert, Gewalt auszuüben.

Das Paradox, das dadurch in die Welt kam, gehört zu den besten Sonderbarkeiten der Menschheitsgeschichte: Die Religion als unverfügbare Freiheit zu betrachten heißt kurioserweise, sich auf den weltanschaulich neutralen Staat fest zu verlassen. Wer den nicht als Schutz hat, ist nicht mit Sicherheit frei – sondern lebensgefährlich frei.

Heute findet der Staat im Zweifelsfall heraus, ob ein Motorrad fahrender Sikh mit seinem Turban von der Helmpflicht entbunden ist oder nicht. Also keine Privatsache. Der demokratische Rechtsstaat weiß es besser als die Millionen religiöser Einzelprivatmeinungen, die er schützt. Und was einer glauben will, stellt er frei. So kann man christlich daran glauben, dass ein Gekreuzigter aus einem durch Felsbrocken verschlossenen Grab aufbrach und alsbald in den Himmel fuhr. Aber glauben kann man eben auch, dass am 21. September 1823 der Engel Moroni einem amerikanischen Herrn namens Smith erschien, um ihm das Buch Mormon zu überreichen. Und glauben kann man an den hinduistischen Affengott, der Tausende von Kilometern mit nur einem Purzelbaum zurücklegen kann.

Alles Privatsache, selbst dann noch, wenn man seinen Glauben in die Öffentlichkeit trägt, ihn feiert, ihn mit guten Gründen politisch werden lassen will. Alles Privatsache, solange man als Glaubender das staatliche Gewaltmonopol achtet und mit dem Gesetz auch sonst nicht ins Gehege kommt. Denn dann ist Schluss mit privat. Auch um Menschen vor Menschen wirksam schützen zu können, muss Religion Privatsache sein.

Elisabeth von Thadden

Glaube bringt Eifer mit sich - die Gegenposition

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Privatsache? Nein!

Ich verstehe gut den Wunsch, ich möge in Glaubensfragen bitte den Mund halten. Meine Freunde sagen das gelegentlich zu mir, und in der Religion, der ich anhänge, dem Christentum, gibt es eine große Tradition, Gott im Schweigen zu suchen, nicht im Quatschen. Und doch fällt es mir zunehmend schwerer, den Mund zu halten, wenn es um Gott geht. Das heißt, ich beobachte an mir zwei gegensätzliche Impulse: In der Kirche fällt es mir zunehmend leichter, still zu sitzen, in der Öffentlichkeit zunehmend leichter, auch mal den Mund aufzumachen für meine Kirche. Früher war es genau andersrum.

So richtig raus aus der Kirche war ich nie, aber so richtig drin bin ich erst, seit ich 30 bin. Seitdem werde ich immer frömmer – und fühle mich dabei freier. Ist das nur ein persönlicher Verblendungszusammenhang? Oder handelt es sich um einen Glaubensweg, der ganz anders verlaufen wäre, wenn Religion nicht immer auch eine öffentliche Angelegenheit wäre?

Die einzige Gottesbegegnung, die ich als evangelisch-lutherischer Journalist miterlebt habe, war inmitten katholischer Kamerascheinwerfer und Übertragungswagen. Alle katholischen Bischöfe Deutschlands hatten sich in einem Kloster versammelt, um ihr neues Oberhaupt zu wählen. Zwei einflussreiche Köpfe traten gegeneinander an. Doch das größere Drama war in einer Kapelle nebenan zu beobachten: ein Mensch vor Gott. Eine einsame Nonne sitzt da, in stiller Anbetung, vor einer goldgeschmückten Monstranz, darin die Hostie. Es ging ungeheurer Friede aus von diesem Bild, aber auch eine Provokation: Vergeudet da nicht eine Frau ihr Leben? Denn es stimmt ja nicht, dass katholische Schwestern nur Sendboten von Gottes Güte wären. Wo inneres Leuchten sein sollte, glaubt man manchmal auch eine ungute Mischung aus Herzenshärte und mühsam verkniffener Leibeslust auszumachen.

Aus dieser Szene sprachen Glanz und Irrsinn des Christentums. Kann man glauben, dass ein Heiland ganz Gott und ganz Mensch ist? Ich habe viele Jahre nicht verstanden, was das heißen soll, genauer gesagt, ich hielt das für eine dieser Floskeln von Pfarrern und Theologiebürokraten. Und dann die Hostie: Wie kann man im Ernst ein Stück Brot anbeten?

Heute glaube ich: Erst wenn man das Stück Brot ernst nimmt, nimmt man den Gott des Christentums ernst. Die Hostie ist so sichtbar nicht das Fleisch Jesu, zu dem es im Gottesdienst angeblich verwandelt wird, dass man sich schon fragen muss, wie Christen das glauben können, ohne ihren Verstand an der Garderobe abzugeben. Erst wenn man einsieht, dass das Brot ganz der Leib Christi wird, obwohl es Brot bleibt, nähert man sich dem abenteuerlichen Vorschlag an, den das Christentum über seinen Gründer macht: dass Jesus ganz Gott sei und ganz Mensch. Ich jedenfalls glaube inzwischen an den Leib Christi als produktives öffentliches Ärgernis.

Es weht mich daher auch nicht länger folkloristisch an, dass Katholiken gelegentlich ihre Monstranz zur Demonstranz machen und an hohen Feiertagen die Hostie in einer Art ChristPrideParade durch die Straßen tragen. Sie zeigen sich und der Welt ihr Heiligstes, und das ist gut so.

Gibt es Grenzen für christliche Demonstranz? Ja, wenn die Monstranz zur Dominanz wird. Weil Glaube Eifer mit sich bringt – guten, wie ich oft finde, nervigen, wie meine Freunde oft meinen –, wettere ich in zwei Richtungen gleichzeitig. Zum einen gegen die Besserwisser, die in dicken Büchern schreiben, warum Glauben schlecht sei für den seelischen und politischen Frieden – also dumm macht oder tot. Mehr noch aber drängt es mich, den Glauben in Schutz zu nehmen vor einer neuen Sorte von Pullunder-Bourgeoisie, die Christentum plötzlich wieder schick findet, weil das "was mit Werten" ist. Denn das Christentum ist in seinem Glaubenskern gleichermaßen zu intim wie zu radikal, als dass es Tünche sein sollte, um schwarz-grüne Behaglichkeitswelten zusammenzuhalten. Das Christentum ist, diesen Minimalkonsens wünsche ich mir, zumindest "was mit Jesus".

Patrik Schwarz

Dieser Artikel erschien auf Zeit Online.

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