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Der Tod eines kleinen Mädchens in Weißensee war nur einer von vielen Fällen von Vernachlässigung, die die Öffentlichkeit erschütterten.

© dpa

Sozialarbeit im Dilemma: Moderne Sozialarbeit - zum Scheitern verurteilt?

Jugendämtern wird Versagen angelastet, wenn Fälle von Kindesvernachlässigung bekannt werden. Die moderne Sozialarbeit droht zu scheitern, wenn Sozialarbeiter ständig mit der Angst vor Ermittlungen leben müssen.

Kaum ein Monat vergeht, ohne dass in Deutschland ein neuer Fall von Kindeswohlgefährdung bekannt wird, manchmal gar mit tödlichem Ende. Die Empörung der Öffentlichkeit trifft dann zunächst die nachlässigen Mütter und Väter und das sonstige familiäre Umfeld des Opfers. Danach wird nach der Rolle des Jugendamtes gefragt: Wo war es, was hat es getan, wieso hat es nichts getan? Die staatliche Institution, per Gesetz Garant des „Wohl(es) des Kindes“, taugt vorzüglich als anonymer Prügelknabe. Dabei verbirgt sich hinter ihr meist eine fallverantwortliche Person, die Sozialarbeiterin oder ihr männliches Pendant, das in den letzten Jahren seltener geworden ist. Gründe hierfür sind schlechte Bezahlung, miese Aufstiegschancen und jede Menge Rucksäcke voller  Verantwortung, die ein Einzelner alleine gar nicht tragen kann. Die Sozialarbeit ist eine wenig attraktive und nervenaufreibende Generalistenaufgabe, die an den Hochschulen vermittelten Inhalte ähneln einer  Mixtur wie bei einem Kuchen: Ein wenig Psychologie, eine Brise Pädagogik, dazu etwas Soziologie und Recht. In der Praxis kommt dann der Schock, stets stehen die professionellen Helfer mit einem Bein vor Gericht. Denn die Staatsanwaltschaften ermitteln nicht gegen die Ämter, sondern gegen die zuständigen Einzelnen. Da darf sich glücklich schätzen, wer kompetente und empathische Vorgesetzte hinter sich weiß. Selbstverständlich ist das aber nicht.

Seit man Kevin in Bremen tot in einem Kühlschrank fand und Pascal in Saarbrücken spurlos verschwand, stehen die Jugendämter und ihr Personal mehr als je zuvor unter Druck. Weil immer mehr Fälle immer brisanter werden und die Politiker um ihre Posten fürchten müssen, wenn denn etwas schief gehen sollte. So lastet die Verantwortung auf der untersten Hierarchie-Ebene, mit der Folge, dass viele Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter Angst haben, selbst ins Visier der Justiz zu geraten, sich permanent fallmäßig und psychisch überlastet fühlen, allein gelassen mit ihren Sorgen und Nöten.

Was in den 80er und 90er Jahren als moderne Sozialarbeit Einzug in die Jugendämter hielt, droht nun zum Bumerang zu werden. Die Beteiligung der Problemfamilien und der Einsatz von Familienhilfen sind im Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) festgeschrieben. Soll das nun alles so schlecht gewesen sein? Will man zurück zu den Zuständen der 50er und 60er Jahre, als die Sozialarbeiterin noch Fürsorgerin hieß, statt einer flotten Frisur einen Dutt hatte und bei unangemeldeten Hausbesuchen Angst und Schrecken verbreitete? Repression statt Kooperation mit adäquaten Kontrollen? Nach 1968 änderte sich auch in der Jugendhilfe das Denken, Hilfe statt Strafe setzte sich durch und die „Fürsorgeerziehung“ verschwand von der Bildfläche.

Die bedauerlichen Einzelfälle, die in den letzten Jahren publik wurden, haben dazu geführt, dass die Justiz nach den Eltern auch den Staat ins Visier nimmt. Es bleiben aber Einzelfälle. Die Sozialarbeit steht indes vor einem Dilemma: Entweder sie bleibt liberal und nimmt in Kauf, dass immer öfter gegen sie ermittelt wird oder sie nimmt ihre Rolle aus vergangenen Zeiten als Repressionsinstrument des Staates wieder wahr. Doch will das jemand wirklich?

Günter Rohrbacher-List

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