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Erdogan hat gewonnen: Unsere Autorin versteht die Türkei nicht mehr.

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Türkei nach der Wahl: "Ich bin stinkewütend"

Die Türkei hat gewählt. Und Premier Recep Tayyip Erdogan ist der Sieger. Unserer Autorin gefällt das überhaupt nicht. "Merkt ihr denn gar nichts mehr?", fragt sie ihre Landsleute und stellt fest: "Bin ich froh, Deutsche zu sein." Eine Abrechnung.

Viel Glück, Türkei. Ich bin raus. Offenbar wollt ihr weiter belogen und betrogen werden. Ich verstehe euch nicht mehr. Über Nacht habt ihr die Uhren nicht um eine Stunde, sondern um 100 Jahre zurückgestellt. Jedes Land bekommt die Regierung, die es verdient.

Seit den Gezi-Protesten im vergangenen Sommer habe ich mit euch gelitten. Seid ihr von Sinnen? Ist es euch wirklich egal, was der selbsternannte Sultan und seine Lakaien auf dem Gewissen haben? Millionen in Schuhkartons versteckt? Geschenkt. Bereicherung auf Kosten der Menschen in der Türkei? Auch geschenkt. Aber was mit dem fingierten Angriff auf das eigene Land, geplant, um einen Krieg mit Syrien auszulösen? Was, dass eure Journalisten seit Jahren ohne Anklage im Gefängnis sitzen? Staatsanwälte, Richter, Polizeichefs, die über Nacht ausgetauscht werden.

Mein erster Gedanke nach der Wahl war: Bin ich froh, Deutsche zu sein, bin ich froh, den deutschen Pass zu haben. Und wo kann ich meinen türkischen Pass zurückgeben? Ich bin so wütend, dass ich mir nicht anders zu helfen weiß, als meine Wut in Zynismus zu ertränken. Niemals hätte ich gedacht, dass ich das mal sagen würde: Wie schön, in einem Land zu leben, in dem bei der Auszählung der Stimmzettel nicht der Strom abgestellt wird. Merkt ihr denn gar nichts mehr? In 40 Städten ist gleichzeitig der Strom ausgefallen - in 40 Städten. Das ist keine Bananenrepublik mehr, das ist eine Hiyarrepublik. Türken muss ich nicht erklären, was Hiyar ist.

Recep Tayyip Erdogan und seine Ehefrau Emine lassen sich am Wahlabend feiern.
Recep Tayyip Erdogan und seine Ehefrau Emine lassen sich am Wahlabend feiern.

© rtr

Seit mehr als zehn Jahren nehme ich euch in Schutz, erkläre in Endlosschleife, warum die Türkei in die EU gehört. Wir können uns hinsetzen und über Erdogan und seine AKP schimpfen, aber was bringt es den Menschen dort, habe ich gesagt. Der Grund, warum ich mich so verbunden fühlte, war nicht, weil ich Türkin bin oder türkischer Herkunft. Ich war mit euch verbunden, und ganz besonders nach den Protesten, als Demokratin, als Mensch. Weil mir bewusst war, dass ihr als Zivilgesellschaft, die noch ganz klein ist, nicht diese Stärke habt, wie wir sie in Deutschland haben. Wie denn auch? Es ist etwas davon vorhanden, aber es braucht Zeit, um wachsen zu können. Dass allerdings der Kern der Jungen, Aufstrebenden, Modernen, die, die ein ganz anderes Demokratieverständnis haben, so klein ist, hätte ich nicht gedacht. Die, die seit Monaten auf die Straße gehen, um zu protestieren. Ich fühlte mich diesem Land verbunden, weil diese Menschen die Werte, mit denen ich ganz selbstverständlich aufgewachsen bin, jetzt auch für sich einforderten.

Erdogan hat sich in die Ecke gesiegt

Ich hatte so große Hoffnung gesetzt auf diese Wahl. Ich habe der Türkei Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Menschenrechte, Meinungsfreiheit gewünscht, all die Dinge, die einen Staat, die ein Land stark machen. Aber mit Allahs Segen habt ihr das Kreuz der AKP gegeben.

Ihr habt euch wieder für einen Führer entschieden, zu dem ihr aufschauen möchtet, dem ihr dumpf und blind folgen könnt. Ihr sitzt der dummen Idee auf, der Staat bestimme für euch, dabei seid ihr der Staat. Aber vielleicht ist ja genau das mein Denkfehler. Ich bin so bundesrepublikanisch, dass ich mir nicht einmal vorstellen kann, mit harter Hand regiert zu werden. An dem Tag, an dem Erdogan seinen Sohn nicht nur die Schuhkartons mit Geld wegbringen lässt, sondern eine Bankvollmacht von baba bekommt, ist der Übergang zur Dynastie geregelt.

Ich bin enttäuscht, sauer, frustriert, geradezu stinkewütend. Was muss denn noch alles passieren, dass dieser Typ nicht mehr gewählt wird, dass man diesem Autokraten, der als Ersatzsultan, Staat und Verfassung nach eigenem Gutdünken missbraucht, endlich die Schalthebel der Macht entreißt, und das endlich mein Bild einer modernen Türkei die Oberhand gewinnt? Im Gezi-Park wurde protestiert, wir waren solidarisch.. Die Proteste schlugen ins Land um, wir ergriffen Partei für die Leute auf der Straße. Erdogan ließ alles niederknüppeln, wir waren entsetzt. Die Olympischen Spiele gingen nicht nach Istanbul, wir freuten uns klammheimlich. Die Wirtschaft strauchelte, geschieht ihm Recht, dachten wir. Korruptionsprotokolle tauchten auf, ganze Staatsanwaltschaften und Polizeidienststellen wurden versetzt oder entlassen, wir schrien auf. Twitter und Youtube wurde verboten, wir dachten, jetzt ist er endlich reif. Aber halbes Wissen führt ins Verderben, ganzes Wissen führt zu Gott. Die AKP, ausgestattet mit den notwendigen Finanzmitteln, zieht vor den Wahlen durch die Stadtteile der sozial Schwachen und bringt Lebensmittel unters Volk. Man mag die Nase rümpfen, über derart plumpe Methoden. Nur die Mehrheit ringt tagtäglich ums Überleben. Pressefreiheit ist für Menschen, die sich keine Zeitung leisten können, nachrangig, ein Stück Fleisch ist greifbarer.

Hinzu kommt, dass die Türkei von Atatürk aus dem Mittelalter ins 20. Jahrhundert gezwungen wurde. Autoritär. Euer Bewusstsein, moderne Staatsbürger werden zu können, wurde nie gefördert. Mir wird nun klar, dass die meisten Türken konservativ sind, sie brauchen eine klare Orientierung und einen Wertekanon, der ihnen Sicherheit gibt.

Erdogan hat sich damit in die Ecke gesiegt. Das Modell, wirtschaftliche Modernität im konservativen Religionsstaat, ist gescheitert. Aber was rede ich mir den Mund fusselig. Ich wünsche euch von ganzem Herzen, dass ihr endlich aufwacht. Frieden im Land, Frieden in der Welt, sagte Atatürk. Wie recht er hatte.

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