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Was WISSEN schafft: Impfen bis St. Nimmerlein

Es ist Welt-Poliotag. Da stellt sich die Frage: Wird die Kinderlähmung unbesiegbar bleiben?

Während die Welt über Nutzen und Risiken der Schweinegrippe-Impfung streitet, lehnt sich am heutigen 28. Oktober so mancher Virologe zurück und träumt leise von der guten, alten Zeit. Es ist Welt-Poliotag, der alljährlich begangen wird zum Geburtstag von Jonas Salk, Nobelpreisträger und Erfinder des ersten Impfstoffs gegen Kinderlähmung.

In den 50er Jahren, als die Salk-Vakzine herauskam, waren Virologen noch echte Helden und wurden auch als solche gefeiert. In den USA erkrankten jedes Jahr zehntausende Kinder an der Nervenlähmung. Einzige Hoffnung für schwere Fälle war die „eiserne Lunge“, eine monströse Maschine, in dem die Kinder wochenlang künstlich beatmet wurden. Viele starben trotzdem, sie erstickten vor den Augen ihrer Eltern und Ärzte.

Doch dann kam Salk. Der Virologe von der Universität Pittsburgh war besessen von der Idee, das Virus abzutöten und in einen Impfstoff zu verwandeln. Bis 1954 hatte er seinen Impfstoff an 1000 Kindern erfolgreich getestet, doch das reichte den Behörden nicht. Sie wollten mindestens zehnmal so viele Untersuchungen, bevor eine landesweite Zulassungsstudie genehmigt würde. Also ließ der damals 39-Jährige Rhesus- und Java-Affen aus Indien und von den Philippinen importieren, 5000 Tiere pro Monat. Er entnahm den Affen die Nieren, verarbeitete sie zu einzelnen Zellen und züchtete darauf Polioviren. Die abgetöteten und gereinigten Viren spritzte er tausenden Schulkindern aus Pittsburgh – rund 90 Prozent der Eltern hatten dem Experiment zugestimmt.

Am 12. April 1955 war es dann endlich so weit: Die US-Behörden erklärten den Impfstoff als „sicher und wirksam“, fünf Pharmafirmen bekamen Lizenzen für die Herstellung. Schon zwei Wochen später kam es jedoch zur Katastrophe: Durch einen Produktionsfehler waren lebende Viren in einen Teil der Ampullen geraten. Als man das bemerkte, waren davon bereits 120 000 Dosen verimpft. Etwa 40 000 Kinder bekamen Polio, 164 blieben teilweise gelähmt, 10 starben. Es war eine der größten Pharmakatastrophen der Geschichte. Die Impfbereitschaft der US-Bevölkerung hat darunter allerdings kaum gelitten. Nachdem die verunreinigte Charge vom Markt genommen war, wurden bis 1962 rund 400 Millionen Kinder mit der Salk-Vakzine geimpft.

Danach führte man sogar einen Impfstoff ein, der lebende Viren enthält. Hillary Koprowski und Albert Sabin hatten abgeschwächte („attenuierte“) Polioviren gezüchtet, die im Gegensatz zum „Wildvirus“ das Nervensystem nicht befallen können. Ihre Vakzine bewirkte einen fast lebenslangen Immunschutz und konnte geschluckt statt gespritzt werden – damit war die Kinderlähmung endlich auch in den Entwicklungsländern zu bekämpfen.

Heute gilt die Kinderlähmung als beinahe ausgerottet, nur vier Länder (Afghanistan, Indien, Nigeria, Pakistan) melden regelmäßig noch neue Infektionen. Doch obwohl deren Zahl seit 1988 von 350 000 auf unter 2000 pro Jahr gesenkt werden konnte, will das Virus einfach nicht ganz verschwinden. Die Weltgesundheitsorganisation WHO verschob den Termin für die vollständige „Polio-Eradikation“ zuerst von 2000 auf 2005, inzwischen wagt sie in dieser Frage überhaupt keine Prognose mehr.

Paradoxerweise ist der so erfolgreiche Lebendimpfstoff ein Teil des Problems: Durch genetische Veränderung entstehen aus den attenuierten Impfviren von Zeit zu Zeit wieder voll aktive Viren, die eine Kinderlähmung auslösen können. Wenn nur ein Teil der Bevölkerung geimpft ist, können sie sich weiter ausbreiten. In Nigeria zum Beispiel verursachen vom Impfstoff abstammende Polioviren derzeit fast die Hälfte der Erkrankungen. Durch Reisende werden sie von dort in alle Welt getragen: Auch in Europa und anderen „poliofreien“ Erdregionen finden sich in Abwasserproben immer wieder von Impfviren abstammende Polio-Mutanten. Dass die von Infizierten mit dem Stuhl ausgeschiedenen Viren hier keinen Schaden anrichten, ist nur der gründlichen Polio-Impfung in den Industrieländern zu verdanken. Auch in Deutschland muss deshalb wohl noch sehr lange gegen eine Krankheit geimpft werden, die eigentlich so gut wie ausgestorben ist.

Der Autor ist Institutsdirektor und Professor für Medizinische Mikrobiologie in Halle. Foto: J. Peyer

Alexander S. Kekulé

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