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Meinung: Angst vorm gelben Mann

Nicht der Aufstieg Chinas ist eine Bedrohung für den Westen – sondern dessen Scheitern

Das Gespenst der „Gelben Gefahr“ geht wieder im Westen um. Zwei Jahrzehnte nach dem Aufstieg Japans zur Wirtschaftsgroßmacht ist es diesmal China, das in Europa und den USA Ängste auslöst. Kaum eine Woche vergeht ohne vermeintliche Schreckensnachrichten aus der Volksrepublik: Chinesische Textilprodukte überschwemmen Europas Märkte, warnen die Wirtschaftszeitungen. US-Senatoren sehen die „strategische Sicherheit der USA“ gefährdet, weil China den amerikanischen Ölkonzern Unocal kaufen will. Das Weiße Haus schlägt Alarm, weil Peking seine Rüstungsausgaben erhöht.

Die Besorgnis im Westen ist verständlich. In nur einem Vierteljahrhundert ist die Volksrepublik von einem bettelarmen Agrarstaat zur Wirtschaftsgroßmacht aufgestiegen. Die einst sozialistisch grauen Städte wandelten sich zu modernen Hochhausmetropolen. Wo früher Fahrräder der Marke „Fliegende Taube“ fuhren, rollen heute japanische und deutsche Autos durch den Verkehr. Maos Planwirtschaft wandelte sich zum Paradies für Kapitalisten: In Chinas Fabrikgebieten entlang der Küste stellt heute ein Millionenheer von Wanderarbeitern Billigprodukte für den Weltmarkt her, mit Stundenlöhnen von wenigen Cent.

Für die meisten westlichen Länder ist der Sprung ins Industriezeitalter schon Geschichte. Möglicherweise ist das der Grund, dass uns Chinas rasanter Wandel so unheimlich vorkommt. Wir sehen die glitzernden Wolkenkratzer in Shanghai und vergessen, dass hundert Kilometer außerhalb der Stadt Bauern den Pflug von Hand über das Feld schieben. Wir betrachten im Supermarkt die vielen „Made in China“-Produkte und übersehen, dass ein Großteil dieser Gegenstände mit deutschen Maschinen hergestellt wird.

Natürlich verändert Chinas Industrialisierung die Welt. Der wachsende Energieverbrauch der 1,3 Milliarden Chinesen lässt schon heute weltweit die Ölpreise steigen. China wird in Zukunft verstärkt ein Konkurrent des Westens sein – um Rohstoffe, und zunehmend auch als Hersteller von hochwertigen Produkten. Doch die gleiche Situation gab es vor zwei Jahrzehnten bei dem Aufstieg Japans. Der Westen lernte mit der neuen Konkurrenz zu leben.

Die Warnungen vor Chinas Aufstieg sind irrational. Vieles von dem, was heute im Westen über die Volksrepublik geschrieben wird, ist eine Projektion von Ängsten. Weil die Wirtschaft in der Krise steckt, wird China als überpotentes Wirtschaftswunderland beschrieben. Beispiel: Als eine japanische Fabrik in China vor kurzem einige Hundert Autos nach Europa exportierte, wurde in Deutschland bereits der Untergang der heimischen Autoindustrie beschworen. Dabei haben es Chinas Ingenieure bis heute nicht geschafft, ein eigenes Auto zu entwickeln.

Auch für die USA ist China eine Projektionsfläche. Weil die eigene Position als Supermacht ins Wanken gerät, werden die Chinesen zum Herausforderer stilisiert. Pekings Militärhaushalt sei doppelt bis drei Mal so hoch wie die offiziellen Angaben, warnte vergangene Woche Verteidigungsminister Donald Rumsfeld. Was er nicht erwähnte: Selbst wenn man die versteckten Ausgaben mit einrechnet, beträgt Pekings Militärhaushalt rund ein Fünftel von dem der USA. Die Ausrüstung der Volksbefreiungsarmee ist so schlecht, dass sie nach Angaben des Pentagon nicht einmal in der Lage ist, das kleine Taiwan zu erobern.

Pekings KP-Führer haben keinen Masterplan zur Eroberung der Welt. Sie wissen, dass China trotz des glitzernden Wirtschaftsbooms an der Küste noch auf lange Zeit ein Schwellenland sein wird. Ein Land mit wachsendem Wohlstandsgefälle, sozialen Verwerfungen und einem maroden Finanzsystem. Um den Vielvölkerstaat in der nächsten Dekade zusammenhalten zu können, brauchen sie Wirtschaftswachstum und ein stabiles und friedliches Umfeld.

Nicht der Aufstieg Chinas ist eine Bedrohung für den Westen, sondern ein mögliches Scheitern. Welcher multinationale Konzern könnte heute noch auf den Markt in China verzichten – auf ein Fünftel der Menschheit? Wie stabil wären Europa und die USA, wenn hunderte Millionen Chinesen als Armutsflüchtlinge ihr Land verlassen? In den 80er Jahren lernte man in den besseren Hotels in Europa Japanisch, um die neuen, wohlhabenden Gäste aus Fernost zu begrüßen. Jetzt sollte es im Westen „huanying“ heißen – auf Chinesisch heißt das „Willkommen“.

Harald Maass

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