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Meinung: Antiamerikanisches Gen

Löchrige Jeans, Palästinenserschals, nach Ziege stinkende afghanische Mäntel, der penetrante Geruch von Patschuli, die kleinen afrikanischen Zöpfe … am Ende der 70er war in meinem sehr liberalen Gymnasium alles erlaubt. Zu Karneval haben wir im religiösen Mädchenpensionat am anderen Ende der Stadt ein riesengroßes Chaos angerichtet und zu Weihnachten den einsamen Baum in der Mitte des Hofes mit Toilettenpapier eingewickelt.

Löchrige Jeans, Palästinenserschals, nach Ziege stinkende afghanische Mäntel, der penetrante Geruch von Patschuli, die kleinen afrikanischen Zöpfe … am Ende der 70er war in meinem sehr liberalen Gymnasium alles erlaubt. Zu Karneval haben wir im religiösen Mädchenpensionat am anderen Ende der Stadt ein riesengroßes Chaos angerichtet und zu Weihnachten den einsamen Baum in der Mitte des Hofes mit Toilettenpapier eingewickelt. Der Direktor, ein kleiner, eleganter und gebildeter Herr, betrachtete unsere Revolten von seinem erhöhten Fenster aus mit Großmut – und einem Lächeln auf den Lippen. Verboten hat er nie etwas. Bis zu dem Tage, als ein Junge aus meiner Klasse eine Jeans anzog, die aus einer amerikanischen Flagge geschnitten war. Die Sterne tropften an seinen Oberschenkeln hinab und die roten und weißen Streifen konturierten seinen Hintern. Der Herr Direktor, zum ersten Mal in seiner Karriere außer sich vor Wut, stürzte die Treppen seines humanistischen Gymnasiums herab und verurteilte den Schuldigen dazu, auf dem Feld unverzüglich „korrekte“ Kleidung anzuziehen und in den nächsten drei Tagen keinen Fuß mehr in das ehrwürdige Etablissement zu setzen.

Wir, die „Tim in Amerika“ oder „Der große Gatsby“ lasen, die die Musik von Leonhard Cohen und Crosby, Stills, Nash & Young hörten, die von der Fifth Avenue und von Kalifornien träumten – wir kapierten den Zorn des Direktors nicht. Jahre später, auf dem Platz der Kathedrale neben dem Gymnasium, habe ich den Direktor wiedergesehen. McDonald’s wollte in einem alten Patrizierhaus einen vulgären Fastfood-Tempel errichten. Die ganze Stadt erhob sich dagegen. Die Kommune musste das Gebäude am Ende übernehmen und darin ihr Tourismusbüro einrichten.

Welche Obszönität haben McDonald’s und mein Klassenkamerad sich zu Schulden kommen lassen? Trug der Direktor das antiamerikanische Gen in sich? War er geschwächt vom pathologischen Anti-Yankee-Trieb, der die Franzosen seit de Gaulle umtreibt und der Chirac dazu brachte, die Kriegsprojekte von Bush nicht wie ein braver Sergeant gutzuheißen? Unser Präsident, der „Pygmäe, der sich als Jeanne d’Arc verkleidet“ („Wall Street Journal“), hat ja seinen Hang zum Junkfood eingestanden. Und der böse Junge hat so schön geschworen, dass „es in Frankreich keinen Antiamerikanismus gibt, genauso wenig wie Antisemitismus“. Aber der sehr antiamerikanische Ton der Demonstranten, die letztes Wochenende durch Paris marschierten, ist nicht zu leugnen. Die Franzosen hatten immer schon ein zwiespältiges Verhältnis zu Amerika. Der Kreuzzug zum Schutz des französischen Kinos vor den unterdrückenden Filmen Hollywoods und die Regeln zur Verteidigung der Sprache Molières gegen die Barbarei der Anglizismen beweisen das Misstrauen gegenüber unserem faszinierenden Freund.

Seit Wochen hängt auf dem Balkon gegenüber meinem Berliner Schreibtisch eine mickrige US-Flagge, als sei sie wie die Weihnachtssterne aus Plastik dort vergessen worden. Von meinem erhöhten Fenster aus denke ich mit gewisser Sympathie zurück an den Direktor meines alten europäischen Gymnasiums.

Die Autorin schreibt für das französische Magazin „Le Point“. Foto: privat

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