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Tatort Brüssel: Vor wenigen Tagen wurden vier Menschen im Jüdischen Museum der Stadt ermordet.

© Reuters

Antisemitische Angriffe in Europa: Judenfeindschaft ist der Mainstream

Statt Israel zu belehren, wie man mit Terrorismus umgeht, sollten sich europäische Politiker selbst mehr Gedanken darüber machen, wie sie Juden in Europa vor islamistischen Terroristen schützen können

Nach der erschütternden Entdeckung der drei ermordeten israelischen Jugendlichen rückt die Sicherheitslage in Israel, dessen Nachbarschaft signifikant von terroristischen Organisationen wie Hamas und Hisbollah kontrolliert wird, wieder auf die politische Agenda.

Kaum ist die Nachricht von der Ermordung bekannt geworden, haben führende europäische Politiker Israel gemahnt, sich zurückzuhalten. Anstatt Israel zu belehren, wie man mit Terrorismus umgeht, würde es sich lohnen, wenn europäische Politiker mehr Gedanken über die brisante Sicherheitslage für Juden in Europa selbst machen würden.

Das tragische Attentat auf eine jüdische Schule in Toulouse im März 2012, der Terroranschlag auf israelische Touristen in Burgas im Juli 2013 und dann der entsetzliche Anschlag auf das Jüdische Museum Brüssel im Mai diesen Jahres: Vierzehn Menschen, darunter auch Kinder, sind in den letzten zwei Jahren bei antisemitischen Angriffen durch islamistische Terroristen in der EU ermordet worden.

Derweil reißt die Reihe an Übergriffen nicht ab: In Paris wurden am 23. Juni jüdische Studenten in einer Bibliothek von einer Gruppe Jugendlicher angegriffen. Nur ein weiteres Beispiel von vielen zur Zeit.

Aber nicht nur aus muslimischen Milieus mehren sich antisemitische Vorkommnisse. Erst am 20. Juni wurden ein 83-jähriger Mann und seine Tochter in Hamburg bei einer Solidaritätskundgebung für drei im Westjordanland entführte israelische Jugendliche attackiert und verletzt - der Angreifer war ein Globalisierungsgegner von „Attack“. Und mit den hohen Wahlergebnissen für die offen rechtsextremen Parteien Jobbik aus Ungarn und der Goldenen Morgenröte aus Griechenland ist offener Antisemitismus so stark als nie zu vor im europäischen Parlament vertreten.

Judenfeindschaft erfährt weite Zustimmung

Auch im politischen Mainstream erfährt Judenfeindschaft weite Zustimmung. Mit offenem Judenhass und Holocaustleugnung treibt etwa der französische Komiker Dieudonné seine Follower-Zahlen bei Facebook und Youtube in die Höhe und auch der italienische Polit-Neuling Beppe Grillo erfreut sich auch mit Hilfe provokanter Holocaust-Vergleiche hoher Zustimmungswerte.

Antisemitische Vorfälle gehören mittlerweile zum Alltag in Europa, anscheinend so sehr, das die Vorfälle kaum noch mediale Beachtung finden. Fast ein Drittel der europäischen Juden überlegt, laut einer Umfrage der Fundamental Rights Agency, mittlerweile auszuwandern. 7 Prozent aller Befragten gaben an, dass sich der Antisemitismus in den vergangenen fünf Jahren verschlimmert habe. So sehr, dass jüdische Kinder aus Frankreich mittlerweile kaum noch öffentliche Schulen besuchen, wie im vergangenen Dezember Roger Cukierman, der Präsident des jüdischen Dachverbandes Frankreichs, auf einem Symposium im Europäischen Parlament, verriet.

Obwohl die Gefahr für die Sicherheit jüdischen Lebens von verschiedenen Richtungen kommt, ist die Bedrohung durch radikalisierte Muslime besonders akut. Derzeit gehen die europäischen Sicherheitsbehörden davon aus, dass bis zu 3000 europäische Dschihadisten in Syrien kämpfen, darunter allein geschätzte 320 aus Deutschland. Bei der jüngsten Vorstellung des jährlichen Bundesverfassungsschutzberichtes sagte auch Innenminister Thomas de Maiziere, dass aus einer einer abstrakten Gefahr eine konkrete tödliche Gefahr geworden sei, die auch Deutschland betrifft.

Die ersten Dschihadisten sind bereits indoktroniert und kampferfahren aus Syrien zurückgekehrt. Mehdi Nemmouche, der mutmaßliche französisch-muslimische Haupttäter von Brüssel war einer von ihnen. Dass er trotz Gefahrenhinweisen nicht hinreichend überwacht wurde, zeigt in dramatischer Weise die Konsequenzen der mangelnden Koordination der europäischen Terrorabwehr auf.

Derweil ist ein Ende der dschihadistischen Mobilisierung nicht in Sicht. Die Geheimdienste erwarten, dass in den kommenden Wochen und Monaten weitere 5000 Kämpfer aus Europa in Syrien eintreffen werden. Der Zulauf für den dschihadistischen Kampf in Syrien wächst auch deshalb, weil der Radikalisierungsprozess mittlerweile oftmals eigenständig über Facebook, Twitter und Youtube erfolgt und das Problem somit eine neue Dimension erreicht. Zudem stellen die bisherigen Syrien-Rückkehrer einen wichtigen Mobilisierungsfaktor für neue Dschihadisten dar und dienen auch als neue Identifikationsfiguren und Vorbilder für einen größer werdenden Kreis muslimischer Jugendlicher.

Italiens Premier Matteo Renzi hat ein Zeichen gesetzt

Ein besorgniserregender Trend, der mittlerweile auch die öffentlichen Schulen erreicht. Meldungen über gezielte Versuche radikaler Organisationen, Schulgremien im englischen Birmingham zu übernehmen, füllen derzeit die britische Presse. Weniger berichtet wird jedoch über erste Anzeichen hiervon in Deutschland. Einzelne Lehrer und Pädagogen aus Berlin berichten von Vorfällen, in denen Mitschüler beeinflusst und unter Druck gesetzt werden.

Diese neue Entwicklung ist für die Sicherheit jüdischen Lebens in Europa besorgniserregend, denn offener Judenhass ist fester Bestandteil der islamistischen Ideologie und spielt bei der Radikalisierung eine ganz entscheidende Rolle. Viel zu lang hat man in Westeuropa den Antisemitismus in muslimischen Milieus und deren Hass auf den Westen nicht ernst genug genommen. Oftmals wurde das Thema als quasi importierter Nahostkonflikt interpretiert, nicht jedoch als eigenes Problem, auf das man in Berlin, London und Paris Antworten finden muss. Indem man aber die antisemitischen Vorfälle hauptsächlich als Folge der Auseinandersetzung zwischen Israel und den Palästinensern beschreibt, werden die Opfer selbst zu Tätern gemacht. Mit diesem Deutungsmuster kann sich die Politik zudem immer wieder von der Verantwortung für die Sicherheit der eigenen Bürger entziehen.

Europa muss verstehen, dass sich die jüngsten antisemitischen Anschläge nicht allein gegen die Juden Europas richteten, sondern vielmehr gegen die europäische Wertegemeinschaft insgesamt. Italiens Premierminister Matteo Renzi hat dies deutlich gemacht und mit dem Besuch des jüdischen Museums in Brüssel unmittelbar nach dem Anschlag ein wichtiges Zeichen der Unterstützung gesetzt, anstatt an der Auftaktsitzung der Europäischen Sozialisten teilzunehmen. Solidaritätskundgebungen wie die von Renzi sind nicht nur symbolischer Natur. Sie signalisieren der Gesellschaft insgesamt, dass es für Antisemitismus keinen Platz im demokratischen Europa gibt.

Um den Antisemitismus wirksam zu bekämpfen, braucht es mehr solcher Beispiele öffentlicher Zurückweisung. Bereits vor zehn Jahren haben Spitzenpolitiker aus ganz Europa und Nordamerika dies im Rahmen einer hochkarätigen Konferenz der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in Berlin bekräftigt. Nur nach langem Zögern haben die OSZE-Vertreter nun einer Nachfolge-Konferenz für Herbst diesen Jahres in Berlin zugestimmt, die auf Grund der steigenden Vorfälle traurige Aktualität erhält.

Aber spätestens nach dem Anschlag von Brüssel muss allen klar sein, wie wichtig es ist, die Anstrengungen zu verstärken und auszubauen, um die Sicherheit von Juden in Europa zu verbessern. Eine drängende Herausforderung stellt dabei insbesondere die Sicherung jüdischer Einrichtungen dar, denen es oftmals an finanziellen und logistischen Ressourcen mangelt, um antisemitische Vorfälle und Entwicklungen zu beobachten und für die eigene Sicherheit zu sorgen. Ohnehin darf es nicht die Aufgabe einer Minderheit sein, ein Problem der gesamten Gesellschaft - wie den Antisemitismus - zu lösen.

Was also tun? Als Konsequenz aus jüngsten antisemitischen Anschlägen sollte das Europäische Parlament kurzfristig eine Task-Force unter Einbeziehung von NGOs und jüdischen Organisationen gründen, um einen europaweiten Aktionsplan zu erstellen. Dieser sollte Mindeststandards für die Sicherung jüdischer Einrichtungen definieren, eine Informationsoffensive für Strafverfolgungsbehörden und Justiz sowie Empfehlungen für die Weiterentwicklung pädagogischer Programme vorlegen. Damit das Problem langfristig besser koordiniert und umfassend angegangen werden kann, sollte es zudem einen festen Ausschuss mit Beauftragten der EU-Mitgliedsländer geben, damit auch die jeweils gesonderten nationalen Problemschwerpunkte Berücksichtigung finden.

Ahmad Mansour ermutigt Jugendliche mit seinem Projekt "Heroes"

Das wachsende Problem des Antisemitismus in Teilen der muslimischen Bevölkerung soll in einem solchen Maßnahmenkatalog berücksichtigt werden. Weitere Anstrengungen sind notwendig, um muslimische Jugendliche darin zu befähigen, islamistische Denkmuster zurückzuweisen. Hierzu braucht es positive Rollenvorbilder, die zeigen, dass ethnische und religiöse Herkunft keinen Widerspruch zu den universellen Werten westlicher Demokratien darstellt.

Der in Berlin lebende palästinensische Israeli Ahmad Mansour ist ein solches Vorbild. Mit seinem Projekt „Heroes“ ermutigt er türkisch- und arabischstämmige Jugendliche, sich gegen Antisemitismus und sexuelle Diskriminierung zur Wehr zu setzen. Für seine Verdienste wurde er daher vom American Jewish Committee und nun auch vom Berliner Senat ausgezeichnet. Es sind solch identitätsstiftenden Angebote, die nicht nur Auszeichnungen, sondern vielmehr systematische Förderungen verdienen.

Es bleibt eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, den Antisemitismus zu bekämpfen. Verbrechen, die aus Hass oder auf Grund von Vorurteilen begangen werden, müssen schnell und unmittelbar verurteilt werden, denn letzten Endes handelt es sich hierbei um Angriffe auf die Grundwerte der Demokratie, wie menschliche Würde, Gleichheit und Toleranz. Versagt Europa bei dieser Aufgabe, wird jüdisches Leben immer stärker hinter hohen Mauern stattfinden und der Gesellschaft somit zunehmend verloren gehen.

Der weitere Umgang mit dem Problem wird zeigen, ob Europa diesen Test für seine Demokratie bestehen wird.

Die Autorin ist Direktorin des AJC Berlin Ramer Institute for German-Jewish Relations

Deidre Berger

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