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In Ägypten und Tunesien (wie hier in Kairo) gehen dieser Tage die Menschen wieder zu Tausenden auf die Straßen. Die Rede ist von einer zweiten Arabellion.

© Reuters

Arabellion: Von der postrevolutionären Frustration

Ägypten und Tunesien: Zwei Länder, die die postrevolutionäre Frustration gepackt hat. Erst wurde despotisch-willkürlich regiert, nun eben demokratisch-willkürlich, meint Malte Lehming. Die Perspektive ist düster.

Seit es die Demokratie gibt, macht der Wähler vieles falsch. Ignorant sei er, verführbar, leicht einzuschüchtern, irrational, unwissend, kurzsichtig, egoistisch. Schon Platon und Aristoteles misstrauten dem einfachen Volk. Alexis de Tocqueville warnte vor einer Diktatur der Mehrheit. Dabei ist die Selbstherrschaft des Volkes durch Wahl oder Abwahl der Regierenden eine wunderbare Errungenschaft. Zwar führt sie nicht notwendig zu Rechtsstaat und Humanität, aber ohne die Demokratie gibt es Zivilität wohl nur in einem einzigen Gemeinwesen, dem Vatikan.

Doch was taugen Wahlen wirklich? Weder in Afghanistan noch im Irak hat sich jener Funke der Freiheit entzündet, an den sich so viele Hoffnungen geknüpft hatten. Im Gazastreifen kam die Hamas an die Macht, die Tod und Terror verbreitet. In Russland waltet Wladimir Putin, als würde der Kremlchef immer noch vom Politbüro eingesetzt. Solches Gebaren lässt Demokraten den Glauben an sich selbst verlieren. Warum machen so viele Menschen von der Freiheit zur politischen Selbstbestimmung einen derart miserablen Gebrauch? Es ist zum Verzweifeln.

In Ägypten und Tunesien gehen dieser Tage die Menschen wieder zu Tausenden auf die Straßen. Die Rede ist von einer zweiten Arabellion. Eine postrevolutionäre Frustration hat sie gepackt. In beiden Ländern haben bei Wahlen die Islamisten triumphiert. Moralische Rigorismen, religiöse Intoleranz und Menschenrechtsverbrechen bis hin zum Mord sind die Folge. Verschlimmbessert habe sich die Lage, heißt es. Ein Hosni Mubarak herrschte in Ägypten willkürlich, despotisch. Ein Mohammed Mursi herrscht willkürlich, demokratisch. Arbeitsplätze sind nach wie vor rar, die Perspektive ist düster.

Besonders laut empören sich die, die bei der ersten Arabellion besonders euphorisch waren. Die neuen Herrscher werden als Usurpatoren der demokratisch-säkularen Ideale beschimpft. Das ist einerseits richtig, andererseits aber wird die gesellschaftliche Realität in den arabisch-islamischen Ländern vollkommen ausgeblendet. Die Diktatoren von einst waren weitaus säkularer als ihre Völker. Kein Wunder, dass von den ersten freien Wahlen vor allem die religiösen Kräfte profitierten.

Wie der weitere Weg verläuft, ist offen. Gut möglich, dass die Analogie zum Jahr 1989 trägt und der Transformationsprozess zu Rechtsstaatlichkeit und Minderheitenschutz einfach nur länger dauert, als die Revolutionäre gedacht hatten. Gut möglich, dass die Analogie zum Jahr 1979 trägt, als im Iran der Schah aus dem Amt gejagt wurde und die brutale Herrschaft der Mullahs begann, die bis heute dauert. Gut möglich, dass sich einige arabische Staaten am Modell Türkei orientieren, gut möglich, dass in anderen alte Stammesfehden mit neuer Wucht ausbrechen.

Weil keiner die Entwicklung sicher prognostizieren kann, empfiehlt sich für den Westen ein zurückhaltendes kritisches Wohlwollen. Finanzielle Unterstützung muss an Bedingungen geknüpft werden. Gewalt-, Meinungs- und Religionsfreiheit sind nicht verhandelbar. Doch anerkannt werden muss auch die demokratisch erworbene Legitimation der neuen Machthaber. Sie repräsentieren, ob es uns passt oder nicht, den Mehrheitswillen real existierender Menschen. Das zu bagatellisieren, hieße, diese Menschen nicht für voll zu nehmen oder zu verachten. Dafür ist die Demokratie ein zu kostbares Gut.

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