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Arbeitsmarkt: Vollbeschäftigung? Geht doch!

Mehr als drei Jahrzehnte wirtschaftspolitischer Entfesselungskunst haben uns nicht von der Massenarbeitslosigkeit befreit. Ein Blick in die USA und nach Skandinavien weist den Weg.

Utopie verbindet. Arbeit für alle wollen alle. So vereint das Vollbeschäftigungsziel die ganze Republik. Kein Parteienzwist, kein Säbelrasseln zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, kein Protest der Kirchen und Sozialverbände. Wenn sich aber alle einig sind, warum machen wir dann keine Fortschritte? Die Arbeitslosigkeit steigt seit Mitte der 70er Jahre. Mit dieser Erkenntnis endet auch schon der Konsens. Über die Ursachen der Massenarbeitslosigkeit streiten Politik und Wirtschaftswissenschaft seit über 35 Jahren.

Unter Willy Brandt wurden die Erdölschocks noch mit Konjunkturprogrammen bekämpft. Die Bundesbank erstickte jedoch mit ihrer Hochzinspolitik diese Ansätze. Mit Helmut Schmidt hatte Keynes endgültig ausgesorgt. Nun sollten die Unternehmen von vermeidlichen Fesseln befreit und der Staat schlanker werden. Auf den Prüfstand kamen jetzt Steuern und Abgaben sowie das Arbeits- und Sozialrecht. Kurzum: Der Sozialstaat galt fortan als beschäftigungspolitische Bremse. Helmut Kohl setzte diese angebotsorientierte Wirtschaftspolitik fort. Die Abrissbirne kam jedoch nie voll zum Einsatz. Die beschäftigungspolitischen Misserfolge schwarz- gelber Politik rissen Löcher in die Sozialkassen, die gestopft werden mussten, die Sozialausgaben blieben hoch. Mit der deutschen Einheit wurde sogar ein gigantisches Konjunkturprogramm aufgelegt.

Mit dem Wechsel zu Gerhard Schröder war dann endgültig Schluss mit lustig. Arbeitsmarkt und Sozialstaat wurden kräftig durchgeschüttelt. Mit dem Ergebnis, dass Staats-, Steuer- und Lohnquote auf historische Tiefststände gedrückt wurden. Ein beschäftigungspolitischer Erfolg blieb aber auch dem SPD-Kanzler verwehrt. Daran ändert auch das vermeintliche Nürnberger Jobwunder nichts. Letzteres hat mit der Agenda 2010 genauso viel zu tun wie die Geburtenhäufigkeit mit der Anzahl der Störche. Die Wachstums- und Beschäftigungsbilanz des aktuellen Aufschwungs unterscheidet sich kaum von der des letzten (1998 bis 2000). Damals fesselten noch hohe Steuern und ein starrer Arbeitsmarkt die „Leistungsträger“ dieser Republik.

Wir stehen also vor einem Scherbenhaufen. Über drei Jahrzehnte wirtschaftspolitische Entfesslungskunst haben uns nicht vom Krebsübel der Massenarbeitslosigkeit befreit. Ist die Politik machtlos? Ist Vollbeschäftigung doch nur eine Utopie?

Ein Blick über den deutschen Tellerrand belehrt uns eines Besseren. Sowohl im angelsächsischen Raum als auch in Skandinavien kommt man der Vollbeschäftigung nahe. Nun sind internationale Vergleiche immer schwierig. Schweden und Dänemark sind kleine Volkswirtschaften, die fast vollständig am Tropf der Außenwirtschaft hängen. Die USA hingegen leben vom eigenen Binnenmarkt und verschulden sich in ihrer eigenen Währung. Dennoch können wir so einiges von diesen Ländern lernen. So ist Konjunkturpolitik auch in Zeiten der Globalisierung nicht ohnmächtig. In Washington und London senken Zentralbanker im Abschwung schnell und kräftig die Zinsen. Zudem lassen die Kassenwarte dort ihre Haushalte im Konjunkturverlauf atmen. Und die öffentliche Hand investiert, wenn die Wachstumseffekte der Investitionen höher sind als die Finanzierungskosten. Folglich wachsen Briten und US-Amerikaner schneller als das Euroland.

In den skandinavischen Ländern liegt der Schlüssel zur Vollbeschäftigung im Ausbau des öffentlichen Sektors. Dort arbeiten bis zu 25 Prozent der Erwerbstätigen, hierzulande sind es unter zehn. Die Nordländer stellen ein universelles Angebot von sozialen Dienstleistungen für Familien mit Kindern, für Kranke, Behinderte und alte Menschen bereit. Finanziert wird das durch Steuern und Abgaben.

Beide beschäftigungspolitischen Strategien, sowohl der Ausbau des öffentlichen Sektors als auch eine aktive Konjunkturpolitik, könnten auch hierzulande erfolgreich angewandt werden. Die Utopie wäre dann nicht mehr so weit von der Wirklichkeit entfernt.

Der Autor ist Chefökonom des Deutschen Gewerkschaftsbundes.

Dierk Hirschel

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