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Artenvielfalt: "Lonesome George" ist nicht allein

Die Geschichte der gestorbenen Galapagos-Riesenschildkröte George rührt an. Sie ist umso trauriger, je mehr sie menschlich aufgeladen wird. Das geht aber an der Realität vorbei. Jeden Tag sterben zwischen zehn und hundert Arten aus.

Er war alt, hatte ledrige Haut, glotzte mit starren Augen in die Welt. Über besondere geistige Leistungen ist nichts bekannt. Also nicht gerade der Typ, der Emotionen wie Empathie oder Mitleid hervorruft. Doch genau das hat das Schildkrötenmännchen „George“ geschafft, glaubt man den Zeitungs- und Fernsehmachern. Die haben prominent über den Tod des Tieres berichtet, wahrscheinlich in der Annahme, es rühre viele an. Das hat es sicher auch – und man fragt sich, warum.

Es mag vor allem an seiner Geschichte gelegen haben, der des „Lonesome George“. Grandios, dieser Name: Der „einsame Georg“ war der letzte seiner Art Chelonoidis nigra abingdoni, einer Unterart der Galapagos-Riesenschildkröte. Seit Jahren lebte er auf einer Forschungsstation, wo sie hofften, er werde mit Weibchen einer anderen Unterart Nachkommen zeugen. Doch die blieben aus. Und damit endet das Kapitel Chelonoidis nigra abingdoni.

Die Geschichte ist umso trauriger, je mehr sie menschlich aufgeladen wird. Dieses Tier trug einen individuellen Namen, war ziemlich genau 100 Jahre alt (was für kein anderes Lebewesen außer uns Menschen irgendeine Bedeutung hat), hatte Probleme bei der Paarung. Das rührt an.

Es geht nur an der Realität vorbei. Jeden Tag sterben zwischen zehn und hundert Arten aus. Dem überwiegenden Teil der für immer verschwindenden Arten bleibt öffentliche Anteilnahme versagt. Bei manchen hielte sich die Trauer auch in Grenzen: Auf Blutegel, Skorpione oder malariaübertragende Anophelesmücken könnte die Menschheit gut verzichten. Das niedliche Tier oder das mit der anrührenden Geschichte gewinnt unsere Empathie – der Schädling nicht.

Die Natur funktioniert aber anders. Jedes Tier ist gleich nützlich und gleich schädlich. Und dazu gehört nicht nur Sterben, sondern auch Aussterben. Nur so entstehen Nischen für neue Lebensformen. Hätte es die Dinos nicht dahingerafft, hätten die Säugetiere – zu denen auch wir gehören – schlechte Chancen gehabt. Doch diese fortwährende Erneuerung widerspricht unserem Harmoniebedürfnis, unserem Hang nach Bewahrung und Konservierung. Oder wie ist es sonst zu erklären, dass wir Tiere und Pflanzen, die es seit wenigen Jahrzehnten in unserer Region gibt, oft als „invasive Arten“ bezeichnen? Wer der Natur zugesteht, sich zu ändern, wie sie es seit Jahrmilliarden tut, muss auch sagen: Die Robinie, der Japanische Staudenknöterich und der Waschbär gehören zu Deutschland.

Fakt ist aber auch, dass der Mensch diese Veränderungen maßgeblich vorantreibt. Infolge der Erderwärmung „wandern“ Lebensräume immer weiter nach Norden beziehungsweise in die Höhe. Viele Pflanzen und Tiere kommen nicht hinterher. Die Geschwindigkeit, mit der Arten aussterben, ist inzwischen um ein Vielfaches höher als in einer menschenleeren Welt.

Verschwindet eine Art, ist das nicht schlimm. Rasch finden sich ähnliche Lebewesen, die diese Lücke füllen. Verschwinden sie aber zu Hunderten, werden die Ökosysteme in ihren Grundfesten erschüttert. Darum ist es richtig, dass weltweit Artenschutzprogramme gestartet werden. Damit wird unsere Lebensgrundlage gesichert, nur Vielfalt erhält die Lebensräume stabil. Das müssen wir uns immer wieder klarmachen. Symbolfiguren wie der alte George können dabei helfen – ohne unser Zutun hätte Chelonoidis nigra abingdoni wohl noch etwas länger durchgehalten.

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