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Meinung: Aschenputtel auf der Erbse

Von Pascale Hugues, Le Point

Der Test ist simpel, aber unfehlbar: Um die Echtheit einer Prinzessin zu verifizieren, verstecke man unter zwanzig Matratzen und Daunendecken eine kleine Erbse. Tut die junge Dame die ganze Nacht kein Auge zu und erhebt sich am nächsten Morgen völlig gerädert aus den Federn, ist der Test positiv.

Jeden Winter bevölkern Millionen echter Prinzessinnen die Straßen dieser Stadt, und ihre Fußsohlen sind genau so lila wie die delikate Haut ihrer Kollegin aus dem Märchen. Schuld daran ist der Splitt, den der städtische Streudienst großzügig auf die Bürgersteige kippt. Keine Schicht Einlegesohlen, keine Polsterung, kein Extra-Paar Socken kann die Messerstiche dieser Milliarden kleiner Kiesel dämpfen, die sich im Winter unter den Berliner Schuhsohlen sammeln. An jeder Straßenecke wird man Zeuge burlesker Szenen: Ein Versicherungsvertreter in Anzug und Krawatte etwa mühte sich gestern vor meinem Haus, das Gleichgewicht zu halten, während er mit einem Fuß auf der Erde und dem anderen in der Luft einen Laternenpfahl umklammerte. Der gepeinigte Held versuchte, mit den Fingernägeln den Splitt aus der Sohle seines linken Schuhs zu kratzen. Eine wahre Juwelierarbeit, für die man eigentlich professionelle Werkzeuge brauchte: Schabemesser oder Pinzetten. Denn es ist tausendmal schwieriger, diese biestigen kleinen Wintersteinchen loszuwerden, als im Frühling die Überreste von weichem Hundekot aus den Schuhsohlen zu kratzen.

Die Berliner haben ein Talent dafür, widrigen Situationen mit pragmatischen Lösungen zu begegnen. Um öffentliche Balanceakte zu vermeiden und ihre Büroschuhe vor unschönen Schneerändern zu schützen, legen sie jedes Stilempfinden ab und kramen aus ihren Wandschränken monströse Armeeschuhe hervor, lächerliche Stiefeletten, Wanderschuhe aus abgewetztem Leder, Galoschen aus vergangenen Jahrhunderten. Ich bewundere die Radikalität dieser Maßnahme. Denn es braucht Mut, um bei Tageslicht mit solchen Schrecklichkeiten auf die Straße zu gehen. Wenige Hauptstädte der Welt haben einen so entspannten Stil-Kodex wie Berlin. In vielen Büros dieser Stadt werden den ganzen Winter über in diskreten Ecken kleine Armeen von Straßenschuhen und Stricksocken auf Scheuertüchern aufgereiht. Es ist wie bei den amerikanischen Sekretärinnen, die im Sommer auf der Straße Turnschuhe tragen und ihre Nylonstrümpfe und Pumps in der Handtasche verstauen. Die Berliner Sekretärinnen betreten im Winter ihre Büros in Kombinationen aus Business-Kostümen und klobigen Marschierstiefeln. Dann aber ziehen diese Aschenputtel ihre Pumps aus dem Rucksack, wachsen um zehn Zentimeter und verwandeln sich in exquisite Kreaturen.

Je länger ich das beobachte, desto öfter komme ich selbst auf komische Gedanken. Neulich fiel mir eine revolutionäre Lösung ein, wie man es im Winter vermeiden könnte, auf Eis und Splitt auszurutschen und sich den Knöchel zu verstauchen: einfach ein Paar alte Wollsocken über die Schuhe ziehen! Ein Kniff, der – Gott sei Dank – selbst den Geschmackssinn der Berliner beleidigen würde.

Krick, krack, krick … Wenn es in Berlin schneit, bekommt die Stadt einen anderen Klang. Unter tastenden Füßen knirscht der Splitt. Mit seinen Schwarz-Weiß-Reliefs ähnelt Berlin dann einem urbanen Stromboli, mit schwärzlichen Schlackeablagerungen und Milliarden verstreuter Splitter. Der Crêpe-Händler am Winterfeldplatz klagte neulich über Umsatzeinbrüche, weil die Leute lieber zu Hause bleiben, anstatt auf den Straßen ihre Schuhe zu ruinieren.

Heute Nacht wird dann auch die letzte splittfreie Zone Berlins eingewickelt, gereinigt und bis zum nächsten Jahr im Wandschrank verstaut: Zwei Wochen lang wurde der rote Berlinale-Teppich mehrmals täglich gekehrt, gesaugt und gestriegelt. Ein unverzichtbares Requisit der Traumfabrik Kino. Denn Filmstars sind bekanntermaßen die Prinzessinnen von heute – und deren delikate Füßchen auf ihren hohen Pfennigabsätzen ertragen eben nicht das winzigste Elementarteilchen.

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