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Meinung: Auf dem Gewissen

Bei der Vertrauensfrage des Kanzlers kommt es vor allem auf die Abgeordneten an

Die Frage, ob Gerhard Schröder noch Vertrauen genießt, nähert sich dem Volk. An diesem Donnerstag wird der Kanzler dem Ältestenrat des Bundestags per Brief erklären, wie er Neuwahlen erreichen will. Dann hat das Parlament das Wort – und damit leider auch die Chance, die Glaubwürdigkeit von Politik und Verfassung nachhaltig zu demolieren.

Denn bei der Vertrauensfrage kommt es vor allem auf die Abgeordneten an. Der Kanzler kann seinen Antrag nur stellen, überzeugend ablehnen muss ihn das Parlament schon selbst. Zwar müsste nur eine Hand voll Parlamentarier aus den eigenen Reihen nicht für Schröder stimmen, um die gewünschte Niederlage zu gewährleisten – aber wer? Die SPD-Linken und die Grünen wollen ihm am 1. Juli Treue schwören, die SPD-Rechten „loyal“ sein. Und wenn das heißen soll, sich zu enthalten, verbiegen sie die Verfassung, denn die verbietet es, einem Regierungschef aus Loyalität das Vertrauen zu entziehen.

Horst Köhler hat einen vermeintlichen Ausweg aus dem Dilemma gewiesen und das Vorgehen Willy Brandts bei dessen Vertrauensfrage gelobt. Um die Niederlage damals sicherzustellen, waren alle seine Minister mit einem Abgeordnetenmandat einfach zu Hause geblieben. Doch niemand kann Minister sein, der seinem Kanzler misstraut. Schröder müsste in den nächsten Tagen also nicht nur drei Viertel seines Kabinetts feuern, um glaubwürdig zu bleiben, auch verträgt sich diese Strategie schlecht mit dem Verfassungsgrundsatz des freien Mandats: Minister müssen ihrem Kanzler gehorchen, als Abgeordnete sind sie nur ihrem Gewissen unterworfen. Köhler hat Schröder mit seinem Hinweis ebenso wenig eine Gunst erwiesen wie der Innen- und Verfassungsminister Otto Schily, der diese anstößige Praxis jüngst zur „denkbaren Variante“ verklärte. Es hilft nichts, das Problem bleibt. Die Vertrauensfrage darf zwar unecht sein, also auf Misstrauen und Neuwahlen abzielen, aber die Abstimmung darüber muss echt sein. Und echt heißt in diesem Fall: ehrlich – gegenüber sich und dem Grundgesetz. Die Parlamentarier müssen Schröders Ansicht teilen, die politische Lage sei instabil, und sie müssen wirklich meinen, dass er derzeit kein Vertrauen verdient.

Die Situation der Regierung ist Krise genug, und die Vertrauensfrage fordert keine Nibelungentreue ein, sondern verlangt lediglich die förmliche Kundgabe gegenwärtiger (!) Zustimmung zu Person und Programm des Kanzlers. Und damit kann auch die Ablehnung gegenwärtig sein. Auf gut Deutsch: Nach einer Wahl sieht alles wieder anders aus. Es darf dann durchaus einer Vertrauen ernten, der zuvor noch das Misstrauen säte. Es muss nur ein paar rot-grüne Abgeordnete geben, die aktuell nichts mehr mit Schröder anfangen, seinem jetzigen Kurs nicht folgen wollen und deshalb guten Gewissens nicht für ihn die Hand heben mögen. Verrat sieht anders aus.

Oder gibt es diese Abgeordneten am Ende etwa nicht? Müssten sie gar heucheln, wenn sie jetzt nicht für Schröder stimmen? Das Bundesverfassungsgericht schätzt das freie Mandat hoch ein und kontrolliert seine Ausübung nicht weiter. Es sei denn, dieses Recht wird erkennbar missbraucht. Dann könnte man ärgerlich werden in Karlsruhe, und nichts wäre ärgerlicher als das. Selten war es deshalb wichtiger als in diesen Wochen, dass Parlamentarier höchst genau und mit scharfem Blick auf das Grundgesetz ihre Worte wägen – oder einfach auch mal schweigen.

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