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Meinung: Auf dem Sprung

Gefangene in ihrer eigenen Welt: Warum Terroristen der RAF noch immer über ihre Taten schweigen

Es wird viele Leser geben, die schon den Versuch für illegitim halten, das lange Schweigen der RAF verstehen zu wollen, viele auch, die kaum Verständnis haben für das Treffen des Bundespräsidenten mit dem ehemaligen Terroristen Christian Klar. Das ist ihr gutes Recht.

Verlässliche Einblicke in die Gedankenwelt der früheren Terroristen sind schwer erhältlich, und dort, wo sie gelingen, ist das zu Tage Geförderte oft schwer erträglich. Eine Mixtur aus Heilsgewissheit und Menschenverachtung wird sichtbar, eine im Wortsinne oft unfassbare Anmaßung, sich als Herr über Leben und Tod dort aufzuführen, wo man glaubte, dem Einzelnen seine Individualität absprechen zu können. Will man sich das wirklich anhören? Viel Raum für Erklärung ist da nicht, und immer schwingt der Verdacht der Rechtfertigung mit, und manchmal, recht bald, auch der der falschen Reue.

Das alles gerinnt schnell zur Zumutung.

Bundesjustizministerin Brigitte Zypries hat den paradoxen Käfig, in dem sich die RAF-Terroristen von einst in diesen Tagen heftigster Debatten immer noch befinden, vor kurzem in wenigen Worten wohl unbeabsichtigt präzise beschrieben: Die Ministerin erwartet realistischerweise weder die Offenlegung der persönlichen Schuld noch die Schilderung der nun 30 Jahre zurückliegenden Tathergänge, zweifelt im gleichen Atemzug an der Bedeutung potenzieller Aussagen für die juristische Aufarbeitung der RAF-Zeit und warnt davor, dass vereinzelt redselige Ex-RAFler die Deutungshoheit über den „Deutschen Herbst“ gewinnen könnten.

Wie nun? Sollen sie reden oder doch besser für immer schweigen?

Der Versuch, das lange Schweigen der RAF verstehen zu wollen, bedarf einer Präambel: Verstehen wollen heißt nicht Verständnis haben. Es ist dennoch der Einstieg in eine andere Welt vonnöten, das Sich-Einlassen auf ein anderes Koordinatensystem, auf eine innere Logik. Diese innere Logik ist über Jahre hinweg bis über die Grenzen der Absurdität hinaus zementiert worden. Und zwar, man muss das so sagen, von beiden Seiten, vom Staat und von seinen Feinden. Es hat nicht viel Interesse und nur wenige Versuche gegeben, diese innere Logik aufzubrechen. Wahrscheinlich war die Zeit dafür noch nicht reif. Der Staat war nicht in der Bringschuld und die Terroristen nicht in der Lage. So findet sich in der Auflösungserklärung der RAF von 1998 zwar das Eingeständnis einer Niederlage, doch beschrieben wird darin das gleichsam militärische, nicht aber das moralische Scheitern. Tiefere Einsicht? Fehlanzeige. Wer heute dem „Mythos Rote Armee Fraktion“ auf die Spur kommen will, der kommt noch immer an dieser inneren Logik nicht vorbei.

Zwei miteinander verbundene, die Öffentlichkeit in höchstem Maß erregende Umstände befeuern die aktuelle Debatte nicht nur, sie machen sie auch zusätzlich kompliziert. Zum einen ist es das Gnadengesuch des früheren RAF-Mitglieds Christian Klar, dessen abschließender Bearbeitung sich Bundespräsident Horst Köhler nun angenommen hat. Köhler wird in der kommenden Woche entscheiden, es mehren sich die Anzeichen, dass der Präsident sich gegen die öffentliche Meinung zu einer Begnadigung Klars durchringen wird. Mag sein, dass sich dann, langsam nur, tatsächlich etwas lösen wird. Denn der Fall Klar hat den Zugang zur puren zeithistorischen Betrachtung bisher blockiert, er war es, der die Debatte politisch enorm aufgeladen hat. Nicht wenigen gilt Klar als die letzte noch einsitzende Symbolfigur des Terrorismus jenes „Deutschen Herbstes“, die der Staat überhaupt zu fassen bekommen hat.

Gnade für Klar, das weiß auch der Bundespräsident, würde von vielen nicht als Korrektur der eingestandenen Schwäche des Täters empfunden, sondern vielmehr als Korrektur jener Urteile, die über Klar gefällt wurden. Gnade für Klar – das wäre immer auch eine in mildes Dämmerlicht getauchte Schlussszene einer „bleiernen Zeit“, die mit juristischen Mitteln nie befriedigend ausgeleuchtet werden konnte. (Ein Umstand, der von vielen seltsam schicksalsergeben hingenommen wurde.)

Klar im Knast – das ist für viele letztlich immer noch der Beleg dafür, dass der Staat in der Auseinandersetzung mit dem Terrorismus der Stärkere geblieben ist. Der Mann, der nun schon seit einigen Jahren aus seiner abgekapselten Welt zu seinen Konditionen aussteigen möchte, ist gegenwärtig die griffigste Projektionsfläche.

In just jener mittlerweile symbolischen Auseinandersetzung erfährt einer der spektakulärsten politischen Morde in der Geschichte der Bundesrepublik vorderhand eine ebenso spektakuläre Wendung und bringt damit die Jahrestagstypischen kontemplativen Überlegungen zum Deutschen Terror-Herbst durcheinander. Nach Aussage des früheren RAF-Mitglieds Peter-Jürgen Boock könnte im April 1977 mutmaßlich der damalige RAF-Terrorist Stefan Wisniewski die tödlichen Schüsse auf Generalbundesanwalt Siegfried Buback abgefeuert haben; ein Hinweis, der sich mit Informationen deckt, die die ehemalige RAF-Terroristin Verena Becker bereits Anfang der 80er Jahre gegenüber dem Verfassungsschutz gemacht hat. Mit genau dieser Aussage erhält ein Verdacht Nahrung, der – sollte er sich bestätigen – für den Sohn des ermordeten Generalbundesanwalts, Michael Buback, „eine Welt“ zusammenbrechen ließe: der Verdacht, dass seinerzeit in Abwägung aller staatlichen Sicherheitsinteressen zu Ungunsten der Aufklärung entschieden worden ist. In brutaler Verkürzung bedeutete das: Die Ermittlung der Mörder Bubacks war gegenüber der Eindämmung des Terrorismus der RAF von nachrangiger Wichtigkeit.

Was für Michael Buback eine Horrorvorstellung sein muss (und für Rechtsstaats-Puristen eigentlich auch) – nichts käme den am „Mythos RAF“ Interessierten besser zupass als dies. Denn die Unzulänglichkeiten des Ermittlungsapparats ergänzten sich auf groteske Weise mit der kollektiven Identität der Täter. So passend war das in Zeiten des Terrors allemal: Wo RAF drauf stand, war auch RAF drin. Nur, die einen konnten die Taten im Detail nicht entschlüsseln, die anderen wollten nicht. Nun keimt der Anfangsverdacht, dass die einen bisweilen weniger gewollt haben, als sie möglicherweise gekonnt hätten.

Dass Christian Klar in den Augen Michael Bubacks die Gnade des Bundespräsidenten verdient, weil er womöglich im „Deutschen Herbst“ nicht die herausgehobene Position in der Terror-Gruppe inne gehabt hat, die ihm jahrzehntelang zugeschrieben wurde – dies ist mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Gedankengang, den Klar selbst in seiner Zelle in Bruchsal kaum wird nachvollziehen können. Seine Identität, womöglich sogar die von ihm empfundene „Lebensleistung“ beruht ja gerade darauf, die Verantwortung für die „Gruppe“ übernommen zu haben. Sozusagen bis zum bitteren Ende und noch darüber hinaus. Die, die „drinnen“ waren, haben in den Jahren der RAF-Existenz stets in einer schwer zu fassenden Loyalität gegenüber den Illegalen „draußen“ den Eindruck unerschütterlicher Prinzipienfestigkeit aufrechterhalten. Mitunter fand das in einem Zustand höchster innerer Zerrissenheit statt, der schon an Paranoia grenzte: sich beständig die Aufgabe des eigenen Ichs zum Ziel setzend. Die Rettung der Restbestände seiner eigenen Biographie verbietet es Christian Klar, dem so lange so schweigsam Gebliebenen, nachgerade ein öffentliches Schuld- oder Reuebekenntnis abzulegen, quasi auf den letzten Metern seiner Haftstrecke. Horst Köhler wird darauf bei seinem Treffen mit Klar am vergangenen Freitag auch kaum insistiert haben.

Das Bild, das der frühere RAF-Terrorist in der Öffentlichkeit abgibt, wird er selbst schwerlich einschätzen können. Andere ehemalige RAF-Mitglieder, wie der an zeithistorischer Aufarbeitung interessierte Karl-Heinz Dellwo, können das schon. Dellwo beklagt das holzschnittartige Image, das von den früheren RAF-Mitglieder existiert: „Entweder man bereut oder man gilt als Hardliner, dazwischen gibt es nichts.“

Noch drastischer wird die absurde Wanderung zwischen den Welten im Fall des ebenfalls wegen Mittäterschaft am Buback-Mord verurteilten Knut Folkerts, einem RAF-Mitglied, das noch heute sagt: „Wir waren geprägt vom kleinen Krieg, vom Ausnahmezustand, von der Härte, die wir angewandt haben und der, die uns traf.“ Die Metapher, die die RAF in jenen Jahren selbst verwandte, hieß: der Sprung. Für die in die Illegalität Gegangenen begann das Leben erst mit dem „Angriff auf die Verhältnisse“. Der galt als conditio sine qua non für die Konstruktion einer nie wirklich präzise definierten Gegengesellschaft.

Knut Folkerts war womöglich zum Zeitpunkt des Buback-Mordes in Holland, sein Tatbeitrag wäre damit weit geringer als bislang angenommen, doch der Reflex, ein vermeintliches „Fehlurteil“ aus dem Jahr 1980 zu entlarven, vielleicht sogar eine Korrektur erwirken zu wollen, existiert nicht. Seinerzeit brüllte Folkerts den Richter im Gerichtssaal an: „Wir diskutieren nicht, auf solche Leute wie Sie schießen wir.“ Den ermordeten Generalbundesanwalt Siegfried Buback nannte er „Propagandist des Staatsfaschismus“, verantwortlich für die „Vernichtung antiimperialistischer Revolutionäre“. Vom Tag des Urteils hat er noch heute als wichtigste Erinnerung, dass damals die Sonne schien. Die hat er danach lange nicht mehr gesehen. Die Welt aber wurde für ihn so konsequent dunkel, wie er sie zuvor ohnehin schon wahrgenommen hatte. Sein Weltbild blieb so für Jahre unverändert, aus seiner Sicht intakt, und jeder als Schikane empfundene Tag unter verschärften Haftbedingungen bestätigte ihn.

Heute sagt Knut Folkerts: „Es geht mir nicht um Wahrheit und damit zwangsläufig um Schuld und Vorwürfe, sondern um Erkenntnis.“

Man sollte den Satz zweimal lesen. Wer will, der findet darin sehr schnell die immer noch mangelnde Einsichtsfähigkeit eines Mannes gespiegelt, der offenkundig immer noch nicht zu seinen eigenen Taten stehen will. Doch Folkerts will sich mit diesem Satz gar nicht aus der Verantwortung für die Terror-Jahre stehlen. So viel Überzeugungstätertum ist allemal noch vorhanden. Wo RAF draufstand, war er, bis zu seiner Festnahme, auch dabei. Das Jonglieren mit der eigenen Rolle, gar das Herunterspielen des eigenen Tatbeitrags, so wie es beispielsweise Ermittler und ehemalige RAF-Mitglieder immer wieder Peter-Jürgen Boock vorgeworfen haben, ist Folkerts Sache nicht.

„Ich will eine Haltung zur Vergangenheit finden, mit der ich leben kann“, sagt Folkerts heute. Das hat etwas von der manischen Suche nach dem richtigen Leben im falschen, vom Vermeiden der fatalen Erkenntnis: Es kann doch nicht alles umsonst gewesen sein. Doch der Sprung von der nicht zustande gekommenen Gegengesellschaft zurück in eine Art von Duldungszustand im „bürgerlichen Leben“ greift die eigene Identität noch immer massiv an. Karl-Heinz Dellwo hat das für einige RAF-Mitglieder so beschrieben: „Wir sind gesprungen und nirgendwo angekommen. Die in Stammheim hatten für sich am Ende eine Lösung – Sprung in den Tod.“

Die Fragen, die Knut Folkerts heute umtreiben sind folglich andere als die, die Michael Buback so sehr quälen. Buback will wissen, wer seinen Vater erschossen hat. Folkerts Fragen lauten: „Wie Halt finden in Bedingungen, die man von Grund auf bekämpft hat? Wie kann ich mit dem Scheitern leben?“ Vielleicht gibt es Schnittmengen bei den Antworten, einfach zu finden sind sie nicht.

Geradezu flehentlich hat der frühere Bundesinnenminister Gerhart Baum, ein Liberaler, dieser Tage an die früheren RAF-Mitglieder appelliert, sie mögen doch endlich ihr „Schweigekartell aufbrechen“. Auch Baum ist an einer Entmystifizierung der RAF gelegen, am Abschluss eines Kapitels, das wie kaum ein anderes die Bundesrepublik aufgewühlt hat. Der Appell wird vorerst wohl unbeantwortet bleiben. Zu weit waren viele entfernt. Und so weit sind sie noch nicht zurück, als dass sie bereit wären, die Wahrheit preiszugeben. Über der Wahrheit steht eben noch immer die Wahrnehmung.

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