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Ingrid Müller

© Kai-Uwe Heinrich

Auf den Punkt: Berlin ist nicht Haiti

Ingrid Müller über den Schnee und das Leben im Entwicklungsland

Der Regierende hat eine knappe Bemerkung gemacht - und die Berliner Seele kocht. Sicher war es instinktlos von Klaus Wowereit, dieser Tage zu verkünden: "Wir sind hier nicht in Haiti, wir sind in Berlin." Jeder, der gerade über die vereisten Bürgersteige schlittert, versucht, über Eisberge karambolagefrei in eine Parklücke zu rangieren, und vor allem jene Älteren, die praktisch nicht mehr einkaufen gehen oder Menschen, die sich mit Knochenbrüchen auf der Unfallstation wieder finden, fühlen sich von ihm einfach nicht ernst genommen.

Richtig ist, dass auch Klaus Wowereit als Chef der Stadt mit verantwortlich dafür ist, dass in diesem Winter kaum mehr ein Vorankommen ist. Er und all seine Leute auf den unterschiedlichsten Hierarchieebenen hätten mit ein wenig Laienverstand bereits vor Wochen ahnen können, worauf die Stadt zurutscht. Wenn überall der Schnee hoch liegt und Temperaturen um null Grad vorhergesagt werden, danach aber wieder Frost, weiß jeder, dass mit einer Eisschicht zu rechnen ist, wenn man nicht in der kurzen Tauzeit sehr aktiv wird und die weiß-grauen Massen von den Gehwegen wegschafft. Das hätten allerdings auch all die Hausbesitzer und -verwaltungen wissen können, die sich in diesen Wochen so verdutzt zeigen, dass die von ihnen angeheuerten Winterdienste nicht fegen und nicht streuen. Viele Berliner haben schon in den vergangenen Wintern bei ihren Hausverwaltungen Beschwerde geführt, dass jedes Mal, wenn es denn mal schneite, die Wege nicht geräumt wurden. Meist war Achselzucken die Reaktion, auch die Verwaltung habe sich schon beschwert. Aber man habe doch im Voraus bezahlt. Und da soll die Nicht-Dienstleistung dieses Winters für sie alle eine Überraschung sein?

Es haben wohl viele nicht aufgepasst. Auch Klaus Wowereit nicht, der selbst allerdings offenbar mit seinen Spikes zumindest sicheren Fußes die paar Wege in der Stadt bewältigt, die er draußen zu Fuß bewältigen muss.

Aber: Eine Katastrophe wie das Beben in Haiti ist dieser Winter nicht. Auch wenn wir uns gern selbst leid tun. Viele haben sich vermutlich auch bei Harald Schmidts Witz vor gut einer Woche gut verstanden gefühlt und sich auf die Schenkel geschlagen. Der ulkte ziemlich geschmacklos: "Meine Damen und Herren, ich freue mich sehr, dass Sie alle hier sind. Zum einen wegen des Wetters. Es ist ja unfassbar, was Deutschland alles ertragen muss in diesen Tagen mit dem Wetter. Diese Katastrophen. Die Uno nennt uns schon Haiti in Weiß." Da hat sich - zumindest öffentlich wahrnehmbar - niemand drüber aufgeregt.

Mit angemessener Relation haben Vergleiche mit dem Bebengebiet leider nichts zu tun. Man sollte sie - so oder so - besser nicht ziehen. Obgleich Wowereits Aussage, Berlin ist nicht Haiti, stimmt.

Niemand sitzt hier ohne ein Dach über dem Kopf, ohne ein Bett, ohne (fließendes) Wasser, ohne Strom mit der ständigen Angst, dass sich vielleicht in der nächsten Minute auch noch die Erde unter einem auftut und einen verschluckten könnte. Einige Tage haben die meisten Menschen in Haiti verständlicherweise in einer Art Schockstarre verbracht. Aber bald haben sie begonnen, sich selbst zu helfen. Viele improvisierte Unterkünfte unter freiem Himmel sind nicht von den UN oder Hilfsorganisationen eingerichtet worden. Das haben die Haitianer erstmal selbst in die Hand genommen. Viele haben in den Trümmern ihre Angehörigen gesucht und geborgen, danach noch brauchbares Material aus dem Schutt gezogen. Mit Hilfe von außen, aber nicht allein durch den Ruf nach Hilfe von anderen. Denn es sind viel zu viele betroffen, als dass ihnen allen schnell Hilfe zuteil werden würde - obwohl ungezählte Helfer aus aller Welt ins Land gekommen sind. Die Menschen haben kleine Geschäfte wieder aufgemacht. Natürlich gab es auch Unmut, etwa dort, wo Hungernde die lebensrettende Nahrung nur vorbeifahren sehen. Es gab auch Banden, die ihr Ding gemacht haben. Aber die große Menge der Haitianer hat versucht, das Beste aus der verzweifelten Lage zu machen. Menschen in solchen Ländern wissen leider meist schon, dass sie vieles allein auf die Beine stellen müssen. Auf ihre Regierung jedenfalls - das ist den meisten klar - können sich die Haitianer nicht verlassen.

Den Vergleich zur Regierung Haitis wollte Klaus Wowereit sicher nicht ziehen. Und es wäre auch gut, er zeigte ein bisschen Verständnis für die Sorgen seiner Bürger. Wie wäre es denn, sich zusammen mit ihnen zu kümmern, anstatt über die (Nicht-)Hilfsmöglichkeiten eines THW (das sich letzten Endes ja auch aus Bürgern rekrutiert) zu philosophieren?

Jedem aber, der glaubt, Berlin in diesen - zugegeben anstrengenden Tagen - sei wie Haiti, der sollte ein simples Rezept befolgen: Vielleicht würde es sogar allen Bundesbürgern gut tun, dies zu machen, um wieder ein Gefühl für die Relationen des eigenen Lebens zu bekommen. Jeder sollte einmal in seinem Leben für eine Woche in ein Entwicklungsland fahren. Das müsste nicht mal nach einem Beben wie jetzt in Haiti sein (da würden reine Besucher ohnehin nur stören), sondern zu den so genannten ganz normalen Zeiten. Dann würde so manches ach so riesige Problem zu Hause rasch auf Normalmaß schrumpfen. Wenn jeder mit offenen Augen reist, würde uns allen manch unsägliche und Monate dauernde Diskussion über ein Schneechaos ebenso wie über die nächste Steuervolte erspart. Vermutlich würde statt dessen ernsthaft über wirkliche Probleme diskutiert, entschieden und angepackt. Nur müsste sich jeder wagen, sich einmal in diese Welt zu begeben - anstatt sich in der eigenen Situation zu bemitleiden.

Vielleicht fährt auch Klaus Wowereit mal in solch ein Land, nicht im Botschaftskonvoi von Regierungspalast zu Parlamentssitz, sondern in ein Entwicklungsland. Spätestens dann wird er vermutlich auch sehen und fühlen können, wie es Menschen geht, die eine Regierung haben, die ihre Sorgen ignoriert.

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