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Malte Lehming

© Kai-Uwe Heinrich

Auf den Punkt: Die Juden und wir

Malte Lehming über Erdogan, Israel und Deutschland

Recep Tayyip Erdogan, der Premierminister der Türkei, verließ das Weltwirtschaftsforum in Davos mit Getöse. Ob er auf den Moderator sauer war, schlecht geschlafen hatte oder tatsächlich den Staat Israel beschimpfen wollte, ist unerheblich. Was zählt, ist die Wirkung des Auftritts. Tausende seiner Anhänger daheim, die Erdogans Rückkehr jubelnd begrüßten, belegen, was sich schon seit längerem abzeichnete: Der Antisemitismus in der Türkei steigt. In einer Umfrage des "Pew Global Attitudes Survey" gaben im Jahr 2008 immerhin 67 Prozent der Türken an, negative Ansichten über Juden zu haben, im Jahr 2004 waren es 49 Prozent. Während des Gazakrieges haben mehrere türkische Kolumnisten Israelis mit Nazis verglichen. Und schon einmal - das war 2004, als Israel den Gründer der Hamas, Scheich Ahmed Yassin umbrachte - wurde Israel von Erdogan als "terroristischer Staat" bezeichnet.

An deutschen Stammtischen wird der Vorfall wohl als doppelt schmerzlich empfunden: Ausgerechnet Erdogan, der Türke, traut sich auszusprechen, was wir denken. Ausgerechnet einer, der selbst, etwa gegenüber Kurden, nicht gerade zimperlich ist und die türkischen Verbrechen an den Armeniern gerne verdrängt, nötigt uns für seinen Mut gegenüber Israel Respekt ab. Das muss weh tun zwischen Wedel und Wanne-Eickel.

Suche nach Sündenböcken

Denn für diese Region gilt aktuell, was gestern die besonnene "Neue Zürcher Zeitung" folgendermaßen beschrieb: "Wer allerdings etwas in die Gesellschaft hineinhört, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass nicht nur die gewaltsamen Übergriffe militanter Rechtsradikaler zunehmen, sondern dass auch verbaler Antisemitismus wieder an Boden gewinnt. Die Zeit scheint wie geschaffen für jene fatalen politischen Vereinfachungen, die stets zu Lasten von Minderheiten gehen. Noch hat die Wirtschaftskrise keine Massenarbeitslosigkeit gefordert, doch die Suche nach Sündenböcken hat bereits begonnen. (…) Einen traurigen Höhepunkt hat der neue Antisemitismus indessen bei Kundgebungen in deutschen Städten gegen den Angriff Israels auf die Hamas im Gazastreifen erreicht."

Das alles stimmt, bis auf eins: Neu ist der Antisemitismus, der sich mit Vorliebe an Israel entflammt, nicht. Er wird seit Jahrzehnten analysiert und beschrieben, es gibt Doktorarbeiten über ihn und Wochenendseminare an Evangelischen Akademien. Dennoch fangen alle Beteiligten immer wieder von vorn an. Dürfen Deutsche Israel kritisieren? Können anständige Menschen Antisemiten sein? Jeder neue Nahostkrieg dient dazu, die alten Schlachten - jetzt sogar bei "Hart aber fair" - neu zu schlagen. Deshalb hier, in aller Kürze, ein kleiner Grundkurs in Sachen Nahostdiskussion, in der Hoffnung, deren Niveau ein bisschen zu heben.

Betrachtungen zum Antisemitismus

Drei Beiträge, gewissermaßen die Klassiker, aus dem eher linken intellektuellen Spektrum sind Pflicht. Erstens Jean-Paul Sartre: "Betrachtungen zur Judenfrage" (Reflections sur la question juive), erschienen 1945 (auf Deutsch: 1948). Darin heißt es: "So erscheint uns die antisemitische Gesinnung als Molekül, das man mit was immer für anderen Molekülen kombinieren kann, ohne dass es sich verändert. Somit kann jemand ein guter Gatte und Vater, ein Musterbürger, hochgebildet, ein Philanthrop und andererseits ein Antisemit sein. Er kann die Freuden der Liebe und die Freuden des Angelsports lieben, in religiösen Dingen tolerant, voll großmütiger Ideen über die Lebensbedingungen der Eingeborenen Zentralafrikas sein und andererseits die Juden verabscheuen." Na, klingelt's?

Zweitens Jean Amery: "Der ehrbare Antisemitismus", erschienen 1969. "Doch neu ist in der Tat die Ansiedlung des als Anti-Israelismus sich gerierenden Antisemitismus auf der Linken. Einst war das der Sozialismus der dummen Kerle. Heute steht er im Begriff, ein integrierender Bestandteil des Sozialismus schlechthin zu werden, und so macht jeder Sozialist sich selber freien Willens zum dummen Kerl. (…) Jahrelang hat man - um einmal von Deutschland zu reden - den israelischen Wehrbauern gefeiert und die feschen Mädchen in Uniform. In schlechter Währung wurden gewisse Schuldgefühle abgetragen. Das musste langweilig werden. Ein Glück, dass für einmal der Jude nicht verbrannt wurde, sondern als herrischer Sieger dastand, als Besatzer. Napalm und so weiter. Ein Aufatmen ging durchs Land. Jedermann konnte reden wie die "Deutsche National- und Soldaten-Zeitung"; wer links stand, war befähigt, noch den Jargon des Engagements routinemäßig zu exekutieren."

Und drittens schließlich Theodor W. Adorno: "Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute", Vortrag von 1962: "Ein besonders hintersinniges Argument ist: ,Man darf ja gegen die Juden heute nichts sagen.' Es wird sozusagen gerade aus dem öffentlichen Tabu über den Antisemitismus ein Argument für den Antisemitismus gemacht: Wenn man nichts gegen die Juden sagen darf, dann - so läuft die assoziative Logik weiter - sei an dem, was man gegen sie sagen könnte, auch schon etwas dran. Wirksam ist hier ein Projektionsmechanismus: Dass die, welche die Verfolger waren und es potenziell heute noch sind, sich aufspielen, als wären sie die Verfolgten."

Wie Bob Dylan es in den 80ern beschrieb

Wenn Ihnen das alles, lieber Leser, zu kompliziert und theoretisch ist, lehnen Sie sich einfach zurück und hören Musik. Nach dem Einmarsch der Israelis 1982 in den Libanon schrieb nämlich der amerikanische Liedermacher Bob Dylan den Song "Neighborhood Bully". Er erschien auf seinem Album "Infidels" (1983). Ähnlichkeiten zu der heutigen Situation sind vielleicht nicht ganz zufällig. Hier der Beginn des Liedes:

"Ja, der Störenfried der Nachbarschaft, er ist nur einer / Seine Feinde sagen, er ist auf ihrem Land. / Sie sind Millionen, er einer / kein Ort nimmt ihn, nirgends kann er hin. Er ist der Störenfried der Nachbarschaft.

Der Störenfried der Nachbarschaft versucht zu überleben, / dass er lebt, wirft man ihm vor. / Wehren soll er sich nicht, / eine dicke Haut soll er haben, / auf den Boden soll er sich legen und sterben, wenn sie ihm die Tür eintreten. Er ist der Störenfried der Nachbarschaft.

Der Störenfried der Nachbarschaft wurde aus jedem Land vertrieben, / als Exilant wandert er von Ort zu Ort. Vor seinen Augen wurde die Familie verstreut, seine Landsleute verfolgt und zerstört, / und immer wird ihm vorgehalten, dass er überhaupt geboren ist. Er ist der Störenfried der Nachbarschaft.

Und als er eine Mörderbande k. o. schlug, kamen die Kritiker, / alte Frauen verdammten ihn, er solle sich entschuldigen. / Dann vernichtete er eine Bombenfabrik, es freute sich niemand. / Die Bomben galten ihm. / Und er sollte sich schämen. / Er ist der Störenfried der Nachbarschaft."

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