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Malte Lehming

© Kai-Uwe Heinrich

Auf den Punkt: Die Super Nanny in uns

Malte Lehming über Verdienst und Schuld in der Sozialstaatsdebatte

In Deutschland ist meist das Schicksal schuld und der Staat verantwortlich. Amerikaner dagegen haben für Schicksal und Schuld nur ein Wort: das Individuum. Vor fast genau zwei Jahren, am 30. April 2008, lief im Abendprogramm eine neue Folge der Super Nanny, Katharina Saalfrank. Das Problem, vor dem sie stand, ist rasch erzählt: Die allein erziehende Mutter Andrea (39 Jahre) hat drei Kinder von drei verschiedenen Vätern - Sarah (18), Denis (12) und Fabio (7). Die älteste Tochter Sarah, bereits Mutter, ist erneut schwanger. Die drei Generationen teilen sich eine viel zu kleine, feuchte Wohnung in Remscheid/Nordrhein-Westfalen. Würde ein solcher Plot in den USA gezeigt, wäre die erste Reaktion der Zuschauer nicht der Ruf nach dem Jugendamt und mehr Betreuungshilfe, sondern die Frage, wie es zu dieser Kalamität überhaupt gekommen ist. Drei Kinder von drei verschiedenen Vätern: Muss man mit dieser Andrea nicht mal ein ernstes Wort reden? In Deutschland gilt solche Reaktion als spießig und herzlos. Was nicht verboten ist, ist erlaubt, und was erlaubt ist, muss von der Gemeinschaft mitgetragen werden. Außerdem hat Andrea ja vielleicht auch nur besonders viel Pech mit den Männern gehabt. Ins aktuelle Politische übersetzt heißt das: Kaum ein Amerikaner versteht die deutsche Westerwelle-Debatte, kaum ein Deutscher versteht die Wut vieler Amerikaner auf Barack Obamas umfassende Gesundheitsreform. "Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein", hatte Guido Westerwelle gesagt und sich einen effektiveren Sozialstaat gewünscht. In den USA gehören solche Forderungen ins Repertoire so ziemlich jeden Politikers. Das Gegenteil wäre anstößig. In Deutschland gilt: Je schwächer das Individuum, desto stärker muss der Staat sein, von der Wiege bis zur Bahre. Dieser Staat muss sich um die Erziehung und Betreuung von Kindern kümmern, die Schule und Universität der Heranwachsenden, für die Folgen von Arbeitslosigkeit und Krankheit aufkommen und schließlich für die Pflege der Alten verantwortlich sein. In den USA indes gilt: Je stärker der Staat, desto schwächer das Individuum, die Familie, die Ehe, die Gemeinde. Denn ein Staat, der all die Aufgaben übernimmt, die früher von persönlich organisierten Verbänden getätigt wurden, macht diese überflüssig. Ein überbordender Staat degradiert die Familie erst zum Futterplatz, dann zur Schlafstelle. Das wiederum führt dazu, dass sich Individuum, Familie und Gemeinde immer weniger verantwortlich fühlen. Mangels Funktionalität sterben sie ab. Am Ende dieses Teufelskreises steht der entmündigte Bürger. Dieses starke Grundgefühl erklärt den Widerstand vieler Amerikaner gegen die Gesundheitsreform. Solches Denken ist uns fremd geworden. Dabei gehörte es einmal zum geistigen Erbe auch dieses Landes. Vor mehr als 200 Jahren verfasste Wilhelm von Humboldt die kleine Schrift "Wie weit darf sich die Sorgfalt des Staats um das Wohl seiner Bürger erstrecken?" Später wurde sie zum Gründungsdokument des deutschen Liberalismus erklärt. Darin heißt es: Durch eine zu ausgedehnte Sorgfalt des Staates "leidet die Energie des Handelns überhaupt, und der moralische Charakter … Wer oft und viel geleitet wird, kommt leicht dahin, den Überrest seiner Selbsttätigkeit gleichsam freiwillig zu opfern. Er glaubt sich der Sorge überhoben, die er in fremden Händen sieht, und genug zu tun, wenn er ihre Leitung erwartet und ihr folgt. Damit verrücken sich seine Vorstellungen von Verdienst und Schuld." Verdienst und Schuld? In solchen Kategorien denken die Deutschen tatsächlich nicht mehr. Für alle Krisenfälle haben sie ja ihre Super Nanny.

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