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Malte Lehming

© Kai-Uwe Heinrich

Auf den Punkt: Die Windchill-Ungerechtigkeit

Malte Lehming über die Debatte um das Arbeitslosengeld

Die Deutschen sind alt, links und unglücklich. Doch eigentlich sind sie nur alt und links oder alt und unglücklich, denn wer links ist, neigt ohnehin zum Unglücklichsein. Das wurde soeben in einer umfangreichen Untersuchung der "Aarhus School of Business" nachgewiesen. Ausgewertet wurden die Antworten von 90.000 Testpersonen aus 70 Ländern auf 400 Fragen. Keine Momentaufnahme also.

Das Ergebnis ist eindeutig: Je weiter links eine Person steht, desto unglücklicher ist sie - und umgekehrt. Unklar bleibt nur, ob die Person zuerst unzufrieden war und dann links wurde oder erst links war und dann unzufrieden wurde. Als Erklärung dient den Forschern ein höheres - Spötter sagen: übersteigertes - Maß an Empathie. Ein hungerndes Kind verletzt die Fairness-Empfindung der unglücklichen Linken so stark, dass 99 satte Kinder dieses Gefühl nicht kompensieren können.

Damit sind wir bei SPD-Chef Kurt Beck und der Diskussion über eine Verlängerung des Arbeitslosengeldes (ALG). Vizekanzler Franz Müntefering ist gegen eine Korrektur des bestehenden Systems und hat gute Gründe für seine Haltung. Denn viele Fakten belegen, dass die 2010-Agenda-Reformen tatsächlich wirken. Außerdem wissen die meisten Bundesbürger, dass die Arbeitslosenversicherung, ähnlich wie die Gesundheitsversicherung, aber anders als die Rentenversicherung nicht wie ein Sparbuch wirkt, sondern existenzielle Risiken absichern soll. Dennoch steht eine große Mehrheit auf der Seite Becks. Diesen Widerspruch fasst die "Süddeutsche Zeitung" in der Frage zusammen: "Was sind nackte Zahlen gegen eine gefühlte Ungerechtigkeit?"

Das ist der zentrale Begriff. Auch Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse beklagt eine Verletzung des "verbreiteten Gerechtigkeitsgefühls", und Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit sagt, die Bürger hätten das Gefühl, hier sei etwas schief gelaufen. In der Klimaforschung gibt es den Windchill-Faktor. Analog kann man in der ALG-Debatte von einer Windchill-Ungerechtigkeit sprechen.

Weil nun die Deutschen alt (wegen anhaltender Kinderlosigkeit), links und unglücklich sind, neigen sie gefühlsmäßig dazu, einzelne Schicksale stärker zu dramatisieren, als durch eine nüchterne Betrachtung der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung notwendig wäre. Wer im Schnitt 50 ist, fühlt sich arbeitslos gewordenen Älteren halt näher als der 30-jährige Repräsentant einer jung-dynamischen Gesellschaft. Das Phänomen ist so neu nicht: Jeder Fall von Kindesmisshandlung verleitet viele Menschen zu der Annahme, das Problem werde immer schlimmer, was die Statistik indes nicht hergibt. Die Pein des mitempfundenen Verbrechens trübt lediglich den Blick auf die Fakten.

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