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Meinung: Aufstand der Mittelschicht

Die Demos in Israel zeigen: Das Land sorgt sich weniger um Sicherheit als um Wohlstand

Rund 450 000 Israelis gingen am Samstag für „gesellschaftliche Gerechtigkeit“ auf die Straße. Eine imposante Zahl: Im Vergleich müssten in Deutschland über 4,3 Millionen Menschen demonstrieren gehen.

„Wir sind die neuen Israelis“, stellte einer der Hauptredner unter tosendem Applaus in Tel Aviv fest. Schön wär’s: Bei fast allen Politikern des Landes, ob in der Koalition oder der Opposition, handelt es sich um die alten Israelis ohne Bodenhaftung zur gesellschaftlichen Realität im jüdischen Staat. Und mit Benjamin Netanjahu thront ein Mann an der Spitze, den auch die Medien zu Recht als Ausgeburt eines „neoliberalen Ultrakapitalisten“ bezeichnen. Deshalb ist zu befürchten, dass trotz aller Versprechen von oben am Ende die neuen Israelis im alten Israel weiterleben müssen.

Und längst sind die Mächtigen im Staate zum Gegenangriff übergegangen. Ihre Hoffnung, dass eine relativ geringe Anzahl von Demonstranten den Druck reduzieren würde, hat sich nicht erfüllt. Im Gegenteil, es stellt sich heraus, dass es den Studenten und der Mittelschicht gelungen ist, auch Teile der ärmeren Schichten in den Protest einzubinden. Somit verbleiben nur drei Säulen der jüdischen Gesellschaft außerhalb des Protestkreises: Die Ultrareligiösen, die Siedler und die Superreichen. Die Protestbewegung hat aus taktischen Gründen darauf verzichtet, die ersten beiden Gruppierungen zu attackieren. Dies, obwohl die Milliardenzuwendungen für die gesellschaftlich parasitären religiösen Fundamentalisten und die nationalistischen Aktivisten im Westjordanland aus Steuergeldern des Mittelstandes finanziert werden – und sie damit den Hauptgrund für dessen wirtschaftlichen Niedergang darstellen.

In einigen Wochen wird die von Netanjahu eingesetzte Expertenkommission ihm ihre Empfehlungen für einen umfassenden gesellschaftlichen Strukturwandel vorlegen. Dann kommt die Stunde der Wahrheit für den Mann, der zwar rhetorisch einen bedeutenden außen- und sicherheitspolitischen Kurswechsel vollzogen hat – indem er unter massivem internationalen Druck seine Zustimmung zur „Zwei-Staaten-Lösung“ mit den Palästinensern gegeben hat –, der aber deren Umsetzung weiter zu verhindern versucht.

Wenn es Netanjahu auch in Bezug auf eine neue gesellschaftliche Ordnung, für ein „neues Israel“, bei leeren Versprechen belässt und keine praktischen Reformen unternimmt, wird er sich selbst aus der Machtposition hebeln. Noch führen er und seine populistische Likud-Partei bei den Meinungsumfragen deutlich vor der Opposition unter Zipi Livni. Doch anders als beim „Arabischen Frühling“ geht es beim „Israelischen Sommer“ nicht um Freiheit und Demokratie“ – sondern „bloß“ um eine gerechtere Gesellschaft. Also um einen anständigen Lebensstandard, um erschwingliche Erziehung und Bildung, bezahlbare medizinische Versorgung, vernünftige Mieten, preiswerte Lebensmittel und weniger indirekte Steuern.

Erstmals in der 63-jährigen Geschichte des Landes geht es jetzt und wohl auch bei den nächsten Wahlen nicht um die staatliche und die persönliche Sicherheit des Bürgers und Wählers, sondern um dessen soziales Wohlergehen. Und das könnte für die Mächtigen, für alle „da oben“, äußerst gefährlich werden.

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