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Aufstand in Ägypten: 1989 im Herzen, 1979 im Kopf

Das Ende einer Diktatur kann auch der Anfang einer neuen Diktatur sein. Noch spielen die ägyptischen Muslimbrüder bei dem Aufstand keine wichtige Rolle. Aber das kann sich ändern.

Das Herz schlägt schneller, wenn Völker sich erheben, um ihrer Unmündigkeit zu entfliehen. Wenn sie das Joch der Gängelei und Erniedrigung abschütteln wollen. Wenn sie den Mut fassen, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen. „Sapere aude!“ heißt das entsprechende Motto der Aufklärung. Von Tunesien bis Ägypten reift die Erkenntnis, dass nicht fremde Mächte an der eigenen Misere schuld sind, sondern die eigenen Herrscher. In Ägypten lebt fast die Hälfte der Menschen von weniger als zwei Dollar am Tag, die meisten davon sind unter 30 Jahre alt. Die Hälfte aller Frauen sind Analphabeten. Die beliebte Ausrede der Herrschenden hieß jahrzehntelang, die arabisch-muslimische Welt sei vor allem wegen des ungelösten Nahostkonflikts rückständig. Doch diese Mär verfängt nicht mehr. Die Freiheit, für die die Menschen kämpfen, ist auch die Freiheit, über ihr Schicksal selbst bestimmen zu können. Das verdient Respekt und Unterstützung.

Doch wer 1989 als Analogie im Herzen trägt, sollte 1979 zumindest im Kopf haben. Auch damals stand ein Volk gegen einen despotischen Herrscher auf. Das war im Iran. Am Ende war der Schah zwar gestürzt, aber Ajatollah Khomeini an der Macht. Statt Pluralismus und Demokratie triumphieren seitdem religiöse Rigidität und imperialistischer Islamismus. An den Spätfolgen dieser Revolution leidet die Weltgemeinschaft bis heute. Das hat sie Vorsicht gelehrt. Das Ende einer Diktatur kann eben auch der Anfang einer neuen Diktatur sein. Noch spielen die ägyptischen Muslimbrüder bei dem Aufstand keine wichtige Rolle. Aber das kann sich ändern. Die Muslimbrüderschaft, die ihren Ableger in der radikalen Hamas im Gazastreifen hat, ist die größte und am besten organisierte politische Gegenkraft zur regierenden Clique. Den Camp-David-Friedensvertrag mit Israel, ein Herzstück der nahöstlichen Stabilität, lehnt sie strikt ab.

Kein Wunder, dass in Israel die Sorgen über die Entwicklung am größten sind. Wieder sieht sich das Land von Feinden umzingelt. Im Norden die Hisbollah und Syrien, im Süden die Hamas, eine unberechenbare Entwicklung in Ägypten plus die Möglichkeit, dass der Funke des Zorns nach Jordanien überspringt. Die Bundeskanzlerin und gut die Hälfte ihres Kabinetts waren jetzt zu Regierungskonsultationen in Jerusalem. Vor knapp drei Jahren hatte Angela Merkel in einer Rede vor der Knesset das Existenzrecht Israels zur deutschen Staatsräson erklärt. Nicht allein deshalb muss auch ihr daran gelegen sein, dass Ägypten ein für Israel verlässlicher Friedenspartner bleibt und radikalislamische Kräfte dort nicht ebenfalls an die Macht kommen. Daraus folgt keine unerschütterliche Treue zu Hosni Mubarak. Daraus folgen aber unmissverständlich formulierte Erwartungen an jede neue Regierung in Kairo.

Im Nachhinein fällt es leicht, den Westen für seine jahrzehntelange Unterstützung arabischer Despoten zu geißeln. Im Nachhinein fiel es auch leicht, Entspannungspolitiker für ihre Kungelei mit Sowjetkommunisten zu kritisieren. Stabilität vor Freiheit: So lautete in beiden Fällen recht oft das kühle Kalkül. War das zynisch? Bisweilen, das muss man zugeben, ja. Andererseits wäre es blanker Masochismus, wegen dieser Realpolitik nun gleich die Erosion unserer Werte zu konstatieren. Demokratie, Freiheit, Pluralismus, Teilhabe: Es gibt keinen stärkeren Beleg für die Kraft dieser Ideale als Menschen, die für sie auf die Straße gehen – ob in Tunesien oder Ägypten – und ihr Leben für sie riskieren.

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