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Was nützt der Glaube?

© Illustration: Klaus Stuttmann

Außenansicht: Der Glaube hat keinen Zweck

Welche Rolle spielt der Glauben in der heutigen Gesellschaft? Religion vermittelt Werte, heißt es oft. Doch Gott hat keine Lust, für unsere Werte und Absichten nützlich und plausibel zu sein.

Am Ende eines Streitgesprächs im Radio zwischen einem Vertreter des Judentums und je einem der evangelischen und der katholischen Kirche fragte der Reporter mit der Bitte um eine kurze Antwort: Was würde der Welt eigentlich fehlen, wenn es Ihren Glauben, Ihre Religion, Ihre Konfession nicht gäbe? Der Erste antwortete mit Ausführungen zu den ethischen Werten, die seine Religion vermittle; der andere sprach von der Bildung, die sonst fehle. Der Dritte aber sagte: Was der Welt fehlte? Gott fehlte der Welt!

Eine starke Antwort. Im Glauben geht es erst einmal um Gott und um nichts anderes. Der Glaube hat keinen Zweck, er verfolgt kein Ziel, hat keine Absicht und übt keine Funktion aus außer der Verehrung Gottes. Der Glaube kümmert sich um Gott und um Gottes Wahrheit, er ist aber nicht berechnend, er schaut nicht auf nützliche Folgen und preist sich nicht an mit seiner Brauchbarkeit. Der Glaube verkündigt die Herrlichkeit Gottes, dass es ihn gibt und dass er für mich und dich da ist, auch heute, hier und jetzt. Und er vollzieht diesen Lobgesang Gottes, gleichgültig, ob das nützlich, brauchbar oder effektiv ist oder nicht.

Am Anfang steht der Vollzug des Glaubens, ohne Berechnung, ohne Absicht, ohne Hintergedanken, in existenzieller Ergriffenheit oder „ekstatischer Unbrauchbarkeit“ (Peter Sloterdijk). Es geht bei ihm um religiöse Rede, nicht um Rede über die Religion, deswegen ist seine Grundform nicht die Erklärung, sondern die Entfaltung, nicht die Diskussion, sondern das Gebet, nicht die Begründung, sondern der Lobgesang. Wer also einen Gottesdienst mitfeiert, weil das Ritual vermeintlich der Work-Life-Balance gut tut, der wird sich bald langweilen. Wer die Lieder des Gesangbuches mitsingt, weil Singen doch so heilsam für die Seele sein soll, der wird bald nur noch seine Lieblingsschlager singen wollen. Und wer die Bibel liest, weil sie seine Helfertätigkeit so gut begründen kann, der wird bald erschöpft sein.

Der Glaube an Gott bringt nichts, obwohl ich etwas von ihm habe; er nützt nichts, obwohl er sinnvoll ist. Wenn ich einen Menschen liebe, dann kann dies auch sinnvoll und nützlich sein, aber ich liebe ihn – hoffentlich – um seiner selbst willen. Und eine Ehe, die beiden nützt, mag lebenslänglich halten, aber Liebe zwischen Menschen ist etwas anders.

Es gibt einen wunderbaren Liebesfilm aus dem Jahre 1998 mit Meg Ryan und Tom Hanks: „E-Mail für Dich!“. In diesem Film findet sich eine der schönsten Liebeserklärungen, die ich kenne. Auf die Frage, warum sie ihn so liebe, lautete die Antwort: „Wegen einer Million Gründe.“ Also faktisch wegen der ganzen Person. So ist es! Wenn man erst einmal einen guten Grund hat, warum man jemanden liebt, dann hat man auch bald einen Grund, warum man ihn nicht mehr liebt, weil der Grund wegfällt oder nicht mehr ausreicht. Meine Erfahrung als Pastor in einer Großstadt war daher: Paare und Partner der Liebe, die den Nutzen ihrer Liebe nennen können, haben sich schon bald verloren.

Auch bei einer Freundschaft ist es so: Freunde können sehr gewinnbringend füreinander sein, aber wenn ich Freunde habe, weil sie mir etwas nützen und bringen, dann sind die Freundschaften bald zu Ende. Und dieses ganze gesellschaftliche Berechnen der vielen Kosten, die Kinder bedeuten, ist im Kern eine Lieblosigkeit. Kinder bekommt man – hoffentlich – um ihrer selbst willen und versucht dann, mit den Kosten klarzukommen.

In der Bibel heißt es: „Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm“ (1. Brief des Johannes 4, 16). Nur aus der Liebe heraus erwachsen gute Folgen, brauchbare Taten und belastbare Gedanken, ohne Liebe können die Folgen und Werke auch des Glaubens leicht lieblos werden. Oder – wie es einmal treffend von einem unbekannten Verfasser an einer Häuserwand geschrieben wurde:

Verantwortung ohne Liebe macht

rücksichtslos,

Gerechtigkeit ohne Liebe macht hart,

Klugheit ohne Liebe macht gerissen,

Freundlichkeit ohne Liebe macht heuchlerisch,

Ordnung ohne Liebe macht kleinlich,

Sachkenntnis ohne Liebe macht rechthaberisch,

Macht ohne Liebe macht gewalttätig,

Besitz ohne Liebe macht geizig,

und Glaube ohne Liebe macht fanatisch.

Martin Luther hat diesen Zusammenhang in immer neuer und tieferer Weise formuliert. Er vergleicht den Menschen mit einem Baum und sagt: Erst wenn ein Baum gesund ist, werden auch die Früchte gut. Umgekehrt geht es nicht und es ist Verrat an Gott, weil wir den Glauben an ihn dann vernützlichen. Diese für den Glauben unumkehrbare Reihenfolge vom Sein zum Handeln, vom Leben zum Machen, ist unter dem Begriff „Rechtfertigung des Sünders“ von den Kirchen der Reformation entfaltet worden und wird angesichts des anstehenden 500-jährigen Reformationsjubiläums 2017 erneut im Mittelpunkt stehen.

Ich bin darum gegenüber allen Behauptungen und Aussagen sehr skeptisch, die einen religiösen oder spirituellen Menschen als besonders gesund, besonders fröhlich, besonders gütig, besonders verantwortlich, besonders erfolgreich, besonders gelassen oder wie auch immer „besonders“ beschreiben. Gerade manche moderne Formen von Spiritualität verknüpfen das Übernehmen dieser oder jener inneren Haltung, dieser oder jener Meditationsübung, dieser oder jener Nahrungsart mit Verheißungen, die auf die Nützlichkeit oder Brauchbarkeit setzen. Aus einem geistlichen Fasten wird dann ein „fit for fun“ und aus spiritueller Praxis wird Selbstoptimierung. Und oft sind es unsichere Menschen mit großen Hoffnungen, die unter Krankheit oder Kummer leiden, die anfällig sind für diese Machbarkeitsverheißungen, die recht äußerlich bleiben und deswegen auch nicht wirklich heilen und helfen können. Man kann vor solcher Verzweckung von Religion nur warnen.

Aber man darf auch nicht verschweigen, dass wir Christen mitunter dieser Versuchung zur Vernützlichung unseres Glaubens nicht immer kräftig genug widersprechen. Manchmal gewinne ich den Eindruck, dass der Geist der Selbstrechtfertigung durch Hinweise auf unsere Nützlichkeit und Brauchbarkeit auch bei uns zunimmt. Wie oft wird die Frage nach Gott beantwortet mit dem Hinweis, die Christen täten doch Sinnvolles und Gutes in der Diakonie und in der Sozialarbeit? So richtig und wichtig diese Hinweise sind, Gott und der Glaube werden damit nicht begründet. Und wie oft versuchen wir Christen uns plausibel zu machen mit dem Hinweis, wir sorgten als eine Art „Bundesagentur für Werte“ für die gerade angefragten Werte?

Dabei denkt natürlich jede und jeder an die Zulieferung ihrer und seiner Werte! Der eine will durch die Kirche den Wert kritische Intellektualität gestärkt wissen, der andere die Leistungsbereitschaft, der dritte den Widerstand gegen Gier und der vierte die Solidarität mit den Armen. Aber so droht die geistliche Gefahr der Trivialisierung Gottes aus dem Geist des Nützlich-Seins. Gott verschwindet hinter diesen allerbesten Absichten, denn ich glaube, er hat keine Lust, nützlich und plausibel zu sein für unsere Werte und Absichten. Gott will um seiner selbst geachtet werden.

Gott bleibt weder in unserer Welt noch in unserer Seele, wenn wir ihn nur nützlich finden. Ein brauchbarer Gott kann zum missbrauchbaren Gott werden, der nicht um seiner selbst willen geliebt und geachtet wird, sondern der zum Optimierer unseres ganz alltäglichen Lebens banalisiert wird. Gott als Zulieferer für gute Werte und noble Motive, Gott in einem „Just-in-time-Job“ für schwächelnde Gerechtigkeit – das geht nicht. Gott, den Herrn des Himmels und der Erde, den Weltenschöpfer, den König aller Heerscharen, mit zweckdienlichen Hinweisen zu seiner Brauchbarkeit zu umstellen, wird seiner Heiligkeit und unserer Glaubwürdigkeit nicht gerecht.

Zugang zu Gott und zum Glauben kommt über das Staunen, und Verwunderung ist der vornehmste Weg zur Entdeckung Gottes. Alles Erklären und Begründen folgt dieser einen Tiefenüberraschung des Lebens. Wir sollen Gott nicht trivialisieren, indem wir seine sinnvollen Verwendungsmöglichkeiten betonen, sondern wir sollen das Wunderbare, das Geheimnisvolle und die Unabschließbarkeit Gottes ins Zentrum unserer kirchlichen Verkündigung stellen. Dies geschieht auch überall dort, wo die Kirche Unterbrechungen des Alltages eröffnet, wo sie ein Innehalten ermöglicht, ein Ausatmen und ein bei-sich-Ankommen. Es geht in der Verkündigung um eine neue Nachdenklichkeit, die über die Bewältigung von Problemen des Alltages hinausgeht: Immer wenn es grundsätzlich wird, immer wenn wir ernste und tiefe Gedanken entwickeln, immer wenn wir aus dem Hamsterrad der Geschäftigkeit heraustreten können und in unserer eigenen Seele Asyl beantragen, immer dann ist Gott nicht mehr fern.

„Gott wohnt in der Stille“ heißt ein Lied im Gesangbuch und es hat mich immer erschreckt festzustellen, dass heutige Konfirmanden und Jugendliche es kaum noch aushalten, still zu werden und in sich hinein zu hören. In der Kirche geht es um Erfahrungen, die man typischerweise in einem Gottesdienst machen kann, in einem Kirchenkonzert oder auch in einer Morgenandacht im Radio. Alle diese Lebensäußerungen der Kirche atmen – wenn sie gut gemacht sind – einen Geist der Verlangsamung und der Zentrierung, sie wirken in einem guten Sinne alltagsabständig, sie üben Entschleunigung aus und ein. So ist der Glaube Unterbrechung des Alltags, Einspruch gegen das ewige Selbstgespräch und Stolperstein im eigenen hochtemperierten Betriebsablauf. Und gerade darin ist er erst einmal weder nützlich noch brauchbar, sondern eher irritierend und kritisch.

Darum gehört es bis heute zu den schönsten Aufgaben unter Gottes Sonne, an den zweckfreien Kern des Glaubens an Gott zu erinnern und denselben zu verkündigen, ihn zu loben und zu preisen. Denn unsere Welt ohne diesen zweckfreien Gott bleibt gefangen und ist auf der Flucht vor sich selbst, und wir Menschen sind ihrem Takt ausgeliefert wie Galeerensklaven. Ohne Gott und seine Engel herrscht die Totalität der Diesseitigkeit.

Die zufällige Gegenwart des Hier, Jetzt und Sofort trägt einen totalen Sieg davon und der Mensch wird reduziert auf einen arbeitenden „homo consumicus“. Die Kirche hatte von Anfang an die Aufgabe, das Evangelium von Jesus Christus als Befreiung aus der Gefangenschaft der angestrengten Selbsterlösungen weiterzuerzählen. Das gelingt uns Christen mal mehr, mal weniger gut.

Aber was auch immer man im Einzelnen von den Geschichten über Christi Leben, von seinem Sterben und Auferstehen erzählt bekommt, von einem bin ich tief überzeugt: Er hat die Welt durch sein Evangelium heller und stiller, tiefer und würdiger gemacht. Mit dem Osterlicht sind zwar noch lange nicht alle alltäglichen Probleme des Lebens gelöst, wir Christen verkünden keinen Problemlöse-Gott. Wohl aber ist die Gefangenschaft im Diesseits, das Eingesperrtsein in sich selbst, beendet. Der Mensch kann mit dem Glauben an Gottes Licht auch in seinen schweren Tagen mutiger, freier und aufrechter leben. Zu dieser Erfahrung lädt die Kirche alle ein, die in diesen Tagen den Weg vom Karfreitag der Finsternis zum Ostermorgen der Auferstehung mitgehen mögen.

Der Autor ist Vizepräsident des Kirchenamts der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).

Thies G, lach

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