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Die Kuppel des Reichstagsgebäudes in Berlin.

© dpa

Außenpolitik: Deutschland muss selbst für Ordnung sorgen

Bisher garantierten die USA Deutschlands Sicherheit. Doch diese Zeiten sind vorbei – und auch die unserer außenpolitischen Zurückhaltung. Die Deutschen sind nun in die Selbstverantwortung entlassen.

Fest integriert in die amerikanisch geprägte Ordnung des Westens hat Deutschland seit Ende des Zweiten Weltkriegs seine bislang besten Jahre erlebt: politische Freiheit, Friede und materieller Wohlstand; erst im Westen Deutschlands, dann auch im Osten. Jetzt ziehen sich die einst übermächtigen Amerikaner schrittweise aus Europa zurück. Damit kommt die Machtfrage zurück nach Deutschland, und sie trifft die Deutschen unvorbereitet. Doch von der Fähigkeit der Deutschen, mit der ihnen zugefallenen Macht verantwortungsvoll umzugehen, hängt die Zukunft der liberalen internationalen Ordnung mit ab, auf dem europäischen Kontinent und darüber hinaus. Deutschland muss seinen Teil dazu beitragen, die ins Wanken geratene internationale Ordnung zu stabilisieren und machtpolitisch abzustützen.

Unter dem Schutz amerikanischer Übermacht haben sich die westeuropäischen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg in neuer Weise verbunden: als wirtschaftliche Kooperationspartner statt als hochgerüstete, einander belauernde Machtkonkurrenten. Statt Furcht prägt heute Vertrauen den Umgang der Europäer miteinander. Während Großbritannien und Frankreich allerdings Merkmale von Machtstaatlichkeit bewahrten, wurde die Bundesrepublik ganz als „postmoderner“ Staat begründet und aufgebaut, als expliziter Gegenentwurf zum klassischen Machtstaat, doppelt eingebettet in die EU und in die von Amerika garantierte internationale liberale Ordnung. Deutsche Machtpolitik sollte für immer der Vergangenheit angehören.

Doch nun wankt das EU-Gebäude. Die Finanzkrise hat Schwächen in der Statik aufgedeckt. Zugleich sind die Amerikaner müde, die Rolle der Weltordnungsmacht, die ihnen aufgrund zweier Weltkriege zugefallen ist, weiterhin zu spielen. Amerika zieht sich aus der Überdehnung zurück und kontraktiert wieder: vom global agierenden Hegemon zur Großmacht mit regional beschränkten Interessen. Die amerikanische Rückversicherung für Europa wird schwächer, und Washington ist nicht mehr selbstverständlich da, um die Konflikte in Europas südlicher und östlicher Nachbarschaft zu managen.

Europa allein zu Hause

Nach über einem halben Jahrhundert im Windschatten amerikanischer Macht sind Deutschland und Europa wieder in einer Position der Selbstverantwortung. Was sie nicht selbst tun, tut niemand für sie. Syrien erscheint da wie ein Menetekel einer neuen Unordnung in unserer Nachbarschaft. Die Kräfte der Despotie und der Anarchie richten das Land zugrunde und die liberal-demokratischen europäischen Mächte schauen hilflos, teils achselzuckend zu. Ist das die Zukunft?

Ulrich Speck ist Visiting Scholar bei Carnegie Europe in Brüssel.
Ulrich Speck ist Visiting Scholar bei Carnegie Europe in Brüssel.

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Deutsche und Europäer müssen sich entscheiden, ob sie mehr in internationale Ordnung investieren wollen oder bereit sind, den Niedergang von Ordnung in Kauf zu nehmen, mit massiven Konsequenzen für europäischen Wohlstand, Sicherheit und letzten Endes auch Freiheit. Internationale Ordnung ist etwas, das immer wieder aufs Neue errungen werden muss, gegen massive Gegenkräfte. Fehlt die machtpolitische Basis, fehlt die entschlossene Verteidigung, fehlt der engagierte Einsatz, dann bröckelt die Ordnung und fällt schließlich in sich zusammen. Die Frage, die sich mit dem Rückzug Amerikas stellt, lautet: Wollen, können Deutschland und seine europäischen Partner das Vakuum füllen und selbst weitaus mehr als bisher zu einem Stützpfeiler der internationalen Ordnung werden?

Deutschland tut sich besonders schwer mit dieser Frage. Die Deutschen haben die machtpolitische Position, in die sie aufgerückt sind, keineswegs angestrebt, im Gegenteil. Im Windschatten der Geschichte haben sie sich so wohlgefühlt wie selten zuvor. Doch an der neuen Realität kommen die Deutschen nicht vorbei. Wiedervereinigung, Wirtschaftskraft und zentrale Lage haben das Land zum mächtigsten Spieler in der EU gemacht und es in die Liga globaler Mächte katapultiert.

Außenpolitik ist in Deutschland noch immer Nebensache

Doch Außenpolitik, der Blick über den heimischen Tellerrand, ist in Deutschland trotz der gewachsenen Bedeutung des Landes noch immer Nebensache. Die Erwartung an die Regierung besteht darin, Deutschland aus Schwierigkeiten herauszuhalten und mit möglichst allen gut Freund zu sein. Tut sie das möglichst unauffällig, hat sie nicht viel Gegenwind zu befürchten. Die geballte Aufmerksamkeit der Deutschen gilt, wie man im Wahlkampf gerade wieder beobachten konnte, der Innenpolitik, den sozioökonomischen Verteilungskämpfen, nicht der Außenpolitik.

Doch je stärker die internationale Ordnung wackelt, umso prekärer wird der deutsche Urlaub von der Außenpolitik. Deutschland kann die liberale internationale Ordnung, in die Deutschland eingebunden und eingebettet ist, nicht mehr als gegeben ansehen, garantiert von anderen. Es muss selbst aktiv werden, als ordnungsstiftende und ordnungsbewahrende Macht – in enger Abstimmung mit den europäischen Partnern und den USA.

Unter Rot-Grün hatte Deutschland erste Schritte unternommen. Gerhard Schröder und Joschka Fischer bemühten sich um eine Neudefinition der Rolle Deutschlands als einer Macht, die internationale Ordnungspolitik zu betreiben willens und in der Lage ist. Doch mit dem Streit über den Irak-Krieg und der wachsenden Enttäuschung über den Afghanistan-Einsatz haben sich diese Ansätze wieder verflüchtigt. Unter Merkel hat Deutschland sich wieder zurückbewegt in die traditionelle Position sogenannter Zurückhaltung.

Von außenpolitischem Gestaltungswillen ist nicht viel zu sehen. Deutschland schwimmt in der Regel mit dem europäischen und transatlantischen Strom. Wenn Berlin mal Position bezieht, dann meist nur, um die außenpolitisch aktiveren Franzosen und Briten zu bremsen. Regelmäßig werden andere gemahnt oder gewarnt. Mit eigenen Initiativen zur Lösung von Konflikten dagegen hält man sich zurück. In der Euro-Krise hat Berlin meist nur das Minimum getan, und auch das fast immer höchst zögerlich. Noch immer reagiert Berlin fast nur auf Anforderungen von außen – seitens der Hauptpartner Frankreich, Großbritannien und USA –, statt selbst zu agieren, orientiert an eigenen Befunden und an strategischen Erwägungen.

Deutschland muss Stellung beziehen

Ein Land von der Größe und Bedeutung Deutschlands kann sich jedoch nicht hinter anderen verstecken, es muss Stellung beziehen. Berlins internationales Gewicht ist heute größer denn je. In vielen Fragen begegnen sich der US-Präsident und die deutsche Kanzlerin auf Augenhöhe. Wenn die chinesische Führung mit Europa ins Geschäft kommen will, wendet sie sich an Berlin. Deutschland spielt längst in der obersten Boxklasse.

Daraus resultiert Verantwortung. Wenn die alte Bundesrepublik sich zurückhielt, konnte sie davon ausgehen, dass eben andere handeln würden. Das ist vorbei. Wenn Deutschland nicht handelt, fehlt oft die kritische Masse. Nachbarn und Partner orientieren sich an Deutschland. Berlin kann Europa bewegen – oder verhindern, dass Europa sich bewegt. Dass die EU keine Syrien-Strategie hat, liegt daran, dass Berlin keine gemeinsame Syrien-Strategie mit Paris und London entwickelt hat. Man duckt sich weg – und überlässt den USA und Russland das Feld.

Deutschland und Europa stehen insgesamt vor zwei großen außenpolitischen Aufgaben. Erstens die Neubegründung der EU, zweitens die Stärkung der liberalen Weltordnung.

Die EU braucht einen New Deal

Neubegründung der EU: Der Erhalt des Status quo erscheint kaum mehr möglich. Der Süden braucht eine Wachstums- und Entschuldungsperspektive. Mitgliedstaaten müssen besser geschützt werden vor Bankenkrisen, deshalb ist eine Bankenunion nötig. Großbritannien droht mit Austritt, zwischen Euro-Staaten und Nicht-Euro-Staaten tun sich Gräben auf. Die Merkel-Methode, statt auf Brüsseler Institutionen auf zwischenstaatliche Vereinbarungen zu setzen, ist höchst fragwürdig. Die EU braucht einen New Deal, eine neue Ordnung, die die auseinanderstrebende Dynamik wieder einfängt und den neuen Anforderungen und veränderten Erwartungen Rechnung trägt. Der Schlüssel dazu liegt in Berlin.

Deutschland hat ein vitales Interesse an der EU. Die EU umgibt Deutschland mit einem Ring von Freunden. Deutschland ist heute von Nachbarn umgeben, die sämtlich liberale Demokratien sind und mit denen Berlin aufs Engste kooperiert. Diese Konstellation hat die deutsche Frage, die zu zwei Weltkriegen führte, gelöst, sie hat Vertrauen an die Stelle von Machtkonkurrenz gesetzt. Die EU bildet, verglichen mit anderen Weltregionen, eine geradezu paradiesische Zone von Freiheit, Sicherheit und Wohlstand, und Deutschland liegt glücklich in der Mitte, abgeschirmt von den Problemen in der südlichen und östlichen Nachbarschaft. Kein geringer Erfolg – und ein starker Grund für Deutschland, in die EU zu investieren.

EU erhöht das internationale Gewicht Deutschlands

Zugleich erhöht die EU Deutschlands internationales Gewicht. In der Welt wird die deutsche Kanzlerin auch als Sprecherin Europas wahrgenommen. Ein Gewicht, das durch eine gemeinsame Außenpolitik noch verstärkt würde. Mit dem neuen diplomatischen Dienst in Brüssel und der Stärkung des Postens der Außenbeauftragten sind die Institutionen dazu vorhanden; woran es noch mangelt, ist der politische Wille. Berlin sollte sich an die Spitze einer Initiative setzen, um Ernst zu machen mit dem Projekt einer europäischen Außenpolitik.

Die zweite Aufgabe für Deutschland und Europa ist, internationale Ordnungspolitik zu betreiben. Dabei geht es zum einen um Konfliktmanagement und Konfliktbewältigung, mit dem Ziel der Stärkung von verantwortungsvoller, friedlicher Staatlichkeit. Europa hat ein erhebliches Interesse an gut regierten Staaten in seiner Nachbarschaft, und es hat ein ebensolches Interesse daran, die von Despotismus und Anarchie ausgehende Gewalt weltweit einzudämmen. Je besser die Regierungsführung, umso mehr Sicherheit, Freiheit und Prosperität für alle.

Zum anderen geht es um eine Stärkung der weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Regeln. Deutschland ist in eine internationale Ordnung eingebettet, die von den Prinzipien der Vereinten Nationen bis hin zu den Regelwerken der Welthandelsorganisation reicht. Dieses Ordnungsgerüst wird unter anderem durch mächtige Autokratien bedroht – insbesondere China und Russland –, die maximalen Handlungsspielraum bewahren wollen und versuchen, globale Spielregeln zu ihren Gunsten zu ändern. Es muss das Ziel deutscher und europäischer Außenpolitik sein, demgegenüber das normative Geflecht, das in den vergangenen Jahrzehnten im Westen entwickelt wurde, zu stützen und abzusichern.

Deutschland ist in die Selbstverantwortung entlassen

Deutsche schmeicheln sich gerne selbst mit der Erzählung, dass Freiheit, Sicherheit und Wohlstand in Europa durch eigenen zivilisatorischen Fortschritt erreicht worden seien, durch das Lernen aus schlimmen Fehlern. Das aber ist nur die eine Hälfte der Wahrheit. Die andere Hälfte ist, dass Deutschland und Europa eingebettet waren und sind in eine liberale internationale Ordnung, deren Bestand bisher durch amerikanische Macht gesichert und gestützt wurde. Wenn sich nun die Garantiemacht dieser Ordnung aus dieser Rolle zurückzieht, dann muss Europa selbst in die Rolle einer Garantiemacht hineinwachsen. Unterlassen die Europäer das, dann setzen sie alle Errungenschaften seit Ende des Zweiten Weltkriegs zumindest aufs Spiel.

Für die machtscheuen Deutschen ist das alles besonders schwierig. Sie müssen lernen, mit der Gestaltungsmacht, die ihnen zugefallen ist, in neuer Weise umzugehen: weder machtbesessen wie in der ersten Hälfte noch machtvergessen wie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Tatsache aber, dass sie Macht ausüben, können sie angesichts der Größe und Bedeutung Deutschlands nicht entkommen.

Die Frage ist lediglich, wie die Deutschen mit dieser Macht umgehen. Ob sie bewusst und reflektiert eingesetzt wird im Sinne eines aufgeklärten Interesses an der Festigung der liberalen internationalen Ordnung, innerhalb derer Deutschland zu Freiheit in Sicherheit und Wohlstand gefunden hat. Oder ob der Einsatz deutscher Macht den wechselnden, gelegentlich irrlichternden Instinkten der Amtsträger und den wankelmütigen innenpolitischen Stimmungen folgt, ohne an strategischen Großzielen orientiert zu sein. In jedem Fall sehen sich die Deutschen in die Selbstverantwortung entlassen. Jetzt kommt die Stunde der Bewährung.

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