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Außenpolitik: Es ist Zeit für Appeasement

Beschwichtigungspolitik hat zu Unrecht einen negativen Klang – oft ist sie die bessere Antwort.

Appeasement! Was für ein mächtiger Ausdruck das ist, der an Gewicht gewinnt, je mehr Jahrzehnte verstreichen. Ein Politiker, der Appeasement betreibt, wird mit negativen Eigenschaften verbunden wie Feigheit, Verrat der Freunde und Alliierten, der Unfähigkeit, das Böse in der Welt zu erkennen – ein Dummkopf also. Oder es ist jemand, der Unrecht erkennt, aber sich aus der Lage rauskauft – ein Schurke also. Nichts alarmiert einen Premierminister oder Präsidenten der westlichen Welt mehr, als wenn er beschuldigt wird, eine Politik des Appeasement zu betreiben. Da ist selbst der Vorwurf noch besser, in einem Kloster gestohlen oder die Familie geschlagen zu haben.

Daher ist es ein eher riskantes Unterfangen, selbst für einen Intellektuellen, zu fragen, ob es nicht manchmal besser ist, einen Rivalen mit Appeasement zu beschwichtigen. Sie wollten die Verhandlungen mit Saddam Hussein fortsetzen? Appeaser. Sie vermeiden, die chinesische Politik in Tibet zu kritisieren? Appeaser. Sie drücken sich um Afghanistan herum? Appeaser. Sie geben den Gehaltsforderungen französischer Fluglotsen nach? App… Bevor der Missbrauch dieses Begriffs außer Kontrolle gerät, lohnt sich ein Blick in die Geschichte. Zumal wir gerade Winston Churchills Amtsantritt als Premier von Großbritannien und dem Commonwealth vor 70 Jahren gefeiert haben. Der Unterschied zu seinem Vorgänger Neville Chamberlain war fundamental: Tag statt Nacht, gut statt böse, Mut statt Schwäche.

Aber war der Kontrast wirklich so absolut? Dieser Eindruck war nützlich für die Kriegspropaganda und die öffentliche Moral. Später hat er den Anhängern McCarthys sehr geholfen, um die „schwache“ amerikanische Außenpolitik zu kritisieren, das Vorgehen im Koreakrieg, die Untätigkeit, nachdem die Sowjetunion mehrfach Aufstände in Osteuropa niedergeschlagen hatte, den Verlust Vietnams und so weiter.

Es gab jedoch eine Zeit, als Appeasement ein eher positiv besetzter Ausdruck war. Das französische Wort „apaisement“ , wovon es wahrscheinlich abgeleitet ist (oder das frühe mittelalterliche „apeser“) bezeichnet die Befriedigung von Hunger oder Durst, das Verbreiten von Wohlbefinden, den Abbau von Spannungen. Selbst heute ist die erste Definition von „appease“ in Websters Wörterbuch „Frieden, Ruhe bringen; beruhigen“. Die spätere negative Bedeutung wird erst sehr viel weiter unten genannt.

Sicher haben Regierungen über die Jahrhunderte hinweg immer wieder versucht, andere Staaten aus einer Position der Schwäche heraus zu beschwichtigen. Oder aus Vorsicht. So haben viele Kriege im 18. Jahrhundert uneindeutig geendet – oft mit der Unterwerfung einer Provinz oder der Rückgabe eroberter Territorien – weil die Staatsmänner sich einig waren, dass ein Kompromiss weniger schlecht war als weiteres Blutvergießen und Verluste. Nachdem der große Eroberer Napoleon 1813–15 besiegt worden war, hielt dieses moderate Temperament wieder Einzug in Europa. Es war alltäglich, Kriege zu begrenzen, Deals auszuhandeln und Rivalen durch finanzielle Angebote gefügig zu machen. Selbst das frühe 20. Jahrhunderts verzeichnet noch einen der ungewöhnlichsten Akte von Appeasement und der fortgesetzten Versöhnungen – nur scheinen die wenigsten amerikanischen Experten den überhaupt zu kennen: Großbritanniens Entscheidung, gegenüber der erstarkenden amerikanischen Republik eine Reihe bedeutender territorialer und politischer Konzessionen zu machen.

Dies sollte man nicht vergessen, wenn wir die Geschichte westlicher Demokratien betrachten, die gegenüber revisionistischen Nationen wie Japan, Deutschland und Italien in den 1930er Jahren eine Politik der Konzessionen und des Hinhaltens der anderen Wange betrieben. Die Liste, wir wissen es, ist beschämend: Die Mandschurei für Japan, Abessinien für Italien, das Rheinland für Deutschland, der Spanische Bürgerkrieg und das anschließende Aufkommen des Autoritarismus, Deutschlands wiederholte Verletzung des Versailler Vertrages, der die Aufrüstung begrenzte, der japanische Angriff auf China, der Anschluss, der München-Deal und die Einverleibung des Sudetenlandes, der Marsch nach Prag, Italiens Angriff auf Albanien (und auf sowjetischer Seite der Molotow-Ribbentrop-Pakt). Erst im September 1939, als deutsche Truppen die polnische Grenze überschritten, beschlossen Großbritannien und Frankreich, dass es reicht und der Krieg nicht länger verhindert werden kann.

Doch halt, Historiker würden einwenden, dass es viele gute Gründe gab, die Entscheidung zum Kriegseintritt hinauszuschieben. Wie Donald Lammers in seinem Buch „Explaining Munich“ zeigt, gab es so viele gute Gründe für Beschwichtigung, dass es eher schwierig gewesen wäre, zu erklären, warum man den Konflikt mit dem Diktator nicht zu verhindern suchte. Eine der allgemeinsten, aber auch verständlichsten Erklärungen ist der lange Schatten, den die Verluste und Erinnerungen des Ersten Weltkriegs geworfen haben; eines selbst verschuldeten Desasters, das Europa mit einer solchen Wucht getroffen hatte, dass es unmöglich schien für die damaligen Regierungen, in einen neuen Krieg zu ziehen.

Außerdem schien es zunächst, als könne man mit Hitler fertig werden. Eine seiner ersten außenpolitischen Handlungen war das Angebot eines Freundschaftsvertrages mit Polen. Ein Jahr später stimmte er einem deutsch-britischen Vertrag zur Begrenzung der Marine zu. Das Referendum im Saarland 1935 zeigte, dass die Einwohner ins Vaterland zurückkehren wollten. Das demilitarisierte Rheinland war Deutschlands „Vorhof“ – wer würde seine Reintegration anfechten wollen? Der Anschluss Österreichs von 1938 war die Vereinigung von Deutschen mit Deutschen. Das Sudetenland war deutschsprachig – und hatte nicht der große Woodrow Wilson selbst für das Prinzip der Selbstbestimmung gekämpft? Diese gewaltigen Ereignisse waren beunruhigend, sicher, aber wann genau war der Punkt erreicht, wo ein Staatsmann sein eigenes Land in einen weiteren großen Krieg schicken wollte, für nicht sehr nahe liegende Ziele? Die Franzosen waren gelähmt wie ein Kaninchen beim Anblick eines Wiesels. Die britische Regierung war hoffnungslos unentschlossen. Die Amerikaner? Apathisch.

Selbst als die revisionistische Politik der Faschisten sich fortsetzte, der Völkerbund vollständig diskreditiert war und der furchtbare Gedanke eines militärischen Konflikts zu Ende gedacht wurde – selbst dann gab es noch Grund zum Zögern. Denn es wäre verrückt gewesen, Deutschland, Japan und Italien gleichzeitig zu bekämpfen. Wenn man es aber nur mit einem der Aggressoren aufnimmt, müsste man die anderen beiden wohl besänftigen …

Aber all dies beantwortet noch nicht die Frage, die allem zugrunde liegt: Wann weiß man, dass ein revisionistischer Staat niemals beschwichtigt werden kann, durch keine kleine oder größere Konzession? Wann war klar, dass Hitler anders war als Stresemann in der Weimarer Ära oder dass Mussolini nicht der geschmeidige Außenminister Ciano war? Wann wusste man, dass der Appetit dieser Diktatoren niemals befriedigt werden konnte durch Kompromisse innerhalb des existierenden internationalen Systems?

Damit bleibt auch eine weitere Frage offen: Können wir zwischen einer „guten“ und einer „schlechten“ Beschwichtigungspolitik unterscheiden? Mit Sicherheit kann man solche Fragen nur im Nachhinein beantworten; dann sind wir alle weise, weil wir wissen, was geschehen ist. Heute wissen wir, dass es weise von den Engländern war, Calais 1558 an Frankreich abzugeben, weil sie damit nicht länger an den Kontinent gebunden waren. Es war weise von Stalin, in den 1930er und 1940er Jahren ein vernünftiges Verhältnis zu Japan aufrechtzuerhalten, weil er sich keinen Krieg in Fernost leisten konnte, während Nazi-Deutschland seinen Feldzug gen Osten vorbereitete. Es war eindeutig weise von Präsident de Gaulle, Frankreich aus dem Blutbad in Algerien herauszuziehen – obwohl „eindeutig“ nicht der Ansicht der französischen Nationalisten entsprach, die den General zu ermorden suchten. Es war weise, sehr weise sogar, während der Krisen um Korea, Ungarn, Berlin und Kuba nicht den Atomkrieg auszulösen. Und es war weise – wie wir heute sehen können – dass die Vereinigten Staaten die enorme Belastung durch den Vietnamkrieg los wurden.

Doch was lehrt uns das im Hinblick auf die Lage in Afghanistan und Pakistan? Die Situation dort ist so schwierig und kompliziert, dass sie auch für die größten Staatsmänner und Strategen der Vergangenheit eine Herausforderung gewesen wäre. Stellt man sich Augustus, William Pitt, Bismarck oder George Marshall vor, wie sie auf eine Karte schauen, die von der Bekaa-Ebene bis zum Khyber-Pass reicht: Keinem von ihnen würde gefallen haben, was sie dort sehen. Wahrscheinlich wären sie alle zu dem Schluss gekommen, dass sie hier vor dem Dilemma stehen: Entweder man verliert oder man gewinnt nicht. Die Entfernungen, die unzugängliche Topografie, die Bereitschaft der Gegenseite, unvorstellbare Verluste hinzunehmen, lassen einen begrenzten Krieg absurd erscheinen.

„Können wir in Afghanistan gewinnen?“, werde ich oft gefragt. Und ich antworte: „Nimm einfach das moderne Pendant zu den zwei Millionen GIs, die in der Normandie gelandet sind, und stationiere sie in jedem afghanischen Dorf.“ Aber das tun wir nicht. Ich denke, ich bin nicht der Einzige, der dieses Unbehagen spürt. Es ist auch keineswegs ein spezifisches Empfinden der politischen Linken. Wenn ich privat meinen früheren Yale-Studenten zuhöre, die vom Kampf an der Front zurückkehren, dann wird mir klar, dass sie nicht daran glauben, dass wir gewinnen können. Wenigsten nicht in dem Sinne, in dem Kongressabgeordnete und Murdoch-Zeitungen vom Sieg reden: ein Sieg, der in der Sprache des American Football beschrieben wird, wo Mannschaften ihren Gegner zerschmettern, überrennen, zermalmen, vernichten. Dies ist eine Fantasiewelt. Einer meiner früheren Studenten, ein US-Marine, berichtete, was der populärste Spruch unter afghanischen Stammesälteren sei: „Die Amerikaner haben die Uhren, wir haben die Zeit.“

Aber was würde passieren, wenn wir wirklich abziehen, uns aus dem Staub machen, nachgeben? Wir würden immerhin nicht die Ersten sein, die diese verflixten Berge und ihre widerborstigen Stämme sich selbst überlassen hätten; im Gegenteil, wir würden uns nur in eine lange Liste früherer Besatzungsarmeen einreihen, die dies erkannt und das Land verlassen haben. Und wenn noch irgendjemand in Washington glaubt, unsere Truppen sollten für immer dort bleiben, mal hier, mal dort aufräumend, weil er den Gedanken an einen Rückzug emotional nicht erträgt, dann sollte er abgewählt werden. Starke Emotionen und Realpolitik passen meist nicht gut zusammen. Wie der dreimalige Premierminister und viermalige Außenminister Lord Salisbury einst beobachtete, ist nichts fataler für eine gute Strategie als an einer gescheiterten Politik festzuhalten. Aber wenige Regierungen haben den Mut, loszulassen; und im Falle Afghanistans wäre – ehrlich gesagt – ein weicher Kompromiss und damit ein halb-kaschierter Abzug wohl die am wenigsten schlechte Art zu gehen. Zumindest gilt das für jetzt. Das kann in der Zukunft auch wieder anders aussehen.

Ob man es mag oder nicht – amerikanische Politiker, Kommentatoren, Strategen und hochrangige Militäroffiziere können Appeasement nicht vermeiden. Sicher, es mag die Zeit kommen, in der man standhaft bleibt und kämpft; in der man eine Linie zieht und laut verkündet, dass man nicht hinter sie zurückweicht. So wie Großbritannien es im September 1939 getan hat. Aber die Bürger Großbritanniens und des Commonwealth haben den Krieg – vermutlich – mit solcher Kraft und Bravour durchgefochten, weil sie wussten, dass ihre Regierungen immer wieder versucht hatten, den Frieden zu erhalten, ein weiteres Abschlachten zu verhindern und faire Kompromisse anzubieten. Nach dem Angriff der Deutschen auf Polen war ihre Bereitschaft zur Beschwichtigung vorbei. Zu Recht.

Wie auch immer die amerikanische Politik sich in den kommenden Jahrzehnten entwickeln wird: Sie wird sich an eine Weltordnung des 21. Jahrhunderts anpassen müssen, in der Amerika eine kleinere Rolle spielt als bisher. Und die Amtsinhaber im Weißen Haus und im Kongress werden es zweifelsohne persönlich mit dem hässlichen politischen Wort „Appeasement“ zu tun bekommen.

Paul Kennedy

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